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Jugend in der DDR

Träume?

1988 war mein bleiernes Jahr. Dreihundertdreiundfünfzig Tage im Land der drei Meere: Sandmeer, Waldmeer, nichts mehr. Zwölf Tage Urlaub. Ein Drittel der Nationalen Volksarmee war rund um Eggesin stationiert - und ich. Heute feiert die NPD dort Wahlerfolge; auch damals war das ganz sicher kein guter Ort für Jungs mit Lebenslust und Verstand. Aber einer für Träume. Manchmal stank morgens der ganze Flur nach ihnen.

Peter M. Buhr, Webmaster der ZEIT, wuchs in Berlin auf. 1988 war er Soldat in der Nationalen Volksarmee.

Ein erreichbarer Traum war Milch. Einmal bekam ich einen ganzen Tornister – 20 Liter habe ich auf dem Rücken die 4 Kilometer bis zum Munitionsdepot getragen. Und dort allein weggesoffen – die Kameraden standen eher auf Alk, den es zwar eigentlich auch nicht gab, irgendwie aber doch. Ich war aus Prinzip Anti. Anti-Alkoholiker und Anti-Raucher – letzteres brachte mich um die zahlreichen Zigarettenpausen bei der Fahne, ich durfte immer durcharbeiten. Von dem Milchtornister habe ich wirklich geträumt, mein Körper schrie nach Kalzium und Vitaminen.

Unerreichbar eins: Freiheit. Raus aus der Kaserne. Nach Hause. Mal wieder ein Mädchen, mal wieder etwas Sinnvolles tun. Abhauen. Gibt es Maßbänder bei der Bundeswehr ? 1988 hab ich meins gebastelt und im Herbst angeschnitten – täglich 1 Zentimeter weniger bis zum Ende. Zur Freiheit. Meine große Liebe schrieb beim dritten Schnipsel, dass sie jetzt heiratet. Nicht mich.

Unerreichbar zwei: Freiheit. Mein Großvater schickte mir Nacktfotos seiner Hausmädchen aus seiner Villa in Paraguay. Er hatte sich mit dem Rest seiner Millionen aus Westdeutschland abgesetzt – wohl wegen der Steuern, so ganz habe ich das nie herausgefunden. Er schrieb, ich solle doch nicht im Osten versauern, bei ihm gäbe es, was das Herz begehre und ich wäre jederzeit willkommen. Ich war mir sicher, dass mein Herz keine Villa mit Hausmädchen mochte– – aber einmal in den Westen, das wollte ich bis zum Rand des Wahnsinns.

Unerreichbar drei: Freiheit. Alle Bücher dieser Welt. Es hieß, in der Berliner Stadtbibliothek in der Breiten Strasse gäbe es einen Giftschrank und darin die verbotenen Früchte – Bücher. Gibt es Spannenderes als verbotenes Wissen? Ich wollte den Zarathustra lesen. Germanistik studieren. Schriftsteller werden wie Volker Braun, Heiner Müller, Gerhard Wolf – Wahrheit schreiben dürfen und können. Mein Land, meine Welt, meine Heimat zum Guten hin verändern.

„Wo siehst Du Dich in 10 Jahren?“ - diese Frage gab es in meinem Osten nicht, die gibt es nur in westdeutschen Personalgesprächen, wie ich heute weiß. Bei uns schien jedem der Weg vorgezeichnet, von der Wiege bis zur Bahre. Vielleicht ein vages Hoffen, dass es doch gelingen möge, dem Stumpfsinn zu entfliehen. Aber weil Zukunftsangst ein Fremdwort war, war Zukunftserwartung es wohl auch. Ich lebte in der Gegenwart – und war damit vollauf beschäftigt.

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Zuender hat drei Zeitzeugen über ihre Jugend in der DDR befragt: Wie war das 1988? Hier geht es zur Übersicht


 
 



 

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