Gesellschaftskritik
Keine Gewalt
Sie sprangen in den Plenarsaal des Bundestages und störten eine Debatte über das Familienrecht. Wer sind diese Leute und was wollen sie? Ein Interview.
Fragen von Carsten Lißmann
Meine brennendste Frage: Wie habt ihr es mit den ganzen Transparenten, Seilen und Flugblättern in den Bundestag und sogar aufs Dach des Reichstagsgebäudes geschafft?
Justus
: Allzuviel wollen wir dazu nicht sagen. Auf jeden Fall hatten wir keine Helfer im Bundestag, wie die
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-Zeitung vermutet hat. Die Transparente hatten wir allesamt bei uns – die Überwindung von Sicherheitskontrollen ist immer auch eine Frage des Auftretens. Die meisten von uns waren etwas seriöser gekleidet als sonst. Und von der Besuchertribüne auf das Dach des Bundestages sind wir per Räuberleiter gekommen.
Wer seid ihr?
Hannah
: Wir sind eine Gruppe von jungen Menschen im Alter von 17 bis 23 Jahren, die sich aus ganz Deutschland für diese Aktion zusammengefunden haben. Einzelne von uns waren vorher schon politisch aktiv, andere gar nicht. Mit großen Organisationen wie
Attac
haben wir nichts zu tun. Im vergangenen Sommer kamen einige von uns auf die Idee, dass wieder einmal ein Zeichen gegen den Kapitalismus gesetzt werden müsste, danach wurde die Gruppe durch persönliche Kontakte immer größer.
Ihr übt Kritik am Kapitalismus. In der
Presseerklärung vom Freitag
tauchen die üblichen Worthülsen aber nicht auf. Welcher Szene ordnet ihr euch zu?
Hannah
: Eher der Ökobewegung, manche von uns dem antikapitalistischen und antifaschistischen Spektrum. Was uns vereint ist, dass wir etwas verändern wollen und das mit friedlichen Mitteln tun wollen.
Justus
: In der Erklärung wollten wir vermeiden, dass die Aktion gleich abgestempelt wird – wenn man sich gegen den Kapitalismus wendet, ist das sofort so ein großer Begriff. Wenn man dagegen sagt: Wir sind nicht einverstanden damit, wie Politik, Gesellschaft und Wirtschaft jetzt organisiert sind, klingt das anders. Wir wollten zeigen, dass wir die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen haben und nun mal allen sagen, wo es lang geht. Was wir wollen, ist ein gesellschaftlicher Diskurs durch alle Altersschichten. Aber wir haben Ideen und Vorschläge. 20.000 Menschen verhungern in unserer Welt jeden Tag. Wir glauben, dass die multinationalen Konzerne ein großer Teil des Problems sind.
Wenn man sich eure Argumente anschaut, ist von allem ein bisschen was dabei: Globalisierungskritik, Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, Konsumkritik, Bildung. Aber auf den Transparenten stand das Verhältnis von Bundestag und Wirtschaft im Mittelpunkt. Ist das die Botschaft?
Justus
: Ja und nein. Der Bundestag ist das Herz der deutschen Demokratie. Doch dieses Herz macht keine Politik für das Wohl der einzelnen Menschen, es ist die Vertretung der Wirtschaft. Wir haben auch andere Botschaften mitgebracht, die in den Medien aber nicht vorkamen: "Du machst keinen Sinn, nur Geld" oder "Deine Freiheit gibt es nicht." Das war sehr konkrete Gesellschaftskritik, wir wollten zeigen, dass junge Menschen heute kaum noch die Möglichkeit haben, ihr Leben selbst zu gestalten, sondern gezwungen sind, sich Gedanken über ihren Lebenslauf zu machen, der möglichst geradlinig sein soll. Um letzten Endes der Wirtschaft zu dienen.
Geht euch das auch so?
Justus
: Selbstverständlich. Natürlich könnten wir total aussteigen und ein ganz anderes Leben führen. Aber das ist nicht meine Vorstellung von Würde und Freiheit. Ich will, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, sich zu entfalten und selbst über ihr Leben zu bestimmen.
Ich glaube, es gibt viele, die eure Kritik im Grunde teilen, aber keine konkreten Verbesserungsvorschläge sehen. Habt ihr welche?
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