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Der blaue Planet
Ich dachte, im Westen höre die Welt auf und die DDR brauche keine Landkarten. Doch dann kam mein Atlas.
Von Frank Hommel
Das erste Buch, das mein Leben veränderte, war die Fibel. Sie hieß damals tatsächlich noch so. Ich erinnere mich an den orangefarbenen Pappdeckel mit den gemalten Kindern drauf, an die riesigen Lettern am Anfang, die mit fortschreitenden Seitenzahlen immer mehr schrumpften. Vor der Fibel waren es Bilderbücher, die mich packten, nach der Fibel verschlang ich unzählbar viele Romane.
Das Buch, das mein Leben wohl am meisten geprägt hat, erzählt keine Geschichte. Seine Bilder zeigen nichts als verschieden gefärbte Flächen, auf denen ein Gewirr aus roten, schwarzen und blauen Linien eine Ansammlung kleiner und großer Punkte verbindet. Irgendwann in den achtziger Jahren muss sie unter meinem Weihnachtsbaum gelegen haben –
Die Erde
aus der Reihe
Haack Kleiner Atlas
.
Vielleicht war das Buch so wichtig, weil ich in der DDR aufgewachsen bin: Als ich geboren wurde, stand die Mauer längst und die Welt war für uns ein theoretisches Konzept, ferner als heute vielleicht der Jupiter.
Vor der Haustür lag die Tschechei, deren offiziellen Namen ("Tschechoslowakische Sozialistische Republik") nicht einmal meine Lehrer benutzten. Ein Land, von dem ich zumindest wusste, dass die Oblaten und Schokolinsen dort aussahen wie Smarties.
Für manche gab es noch Ungarn, Rumänien und Bulgarien am Horizont, für diejenigen mit Weitblick vielleicht noch die Sowjetunion.
Jenseits dieser Länder war die Welt vorbei. Der Westen war in meinem Bewusstsein so eine Art Himmel oder Hölle, ein Ort jenseits dieser Welt.
Was nicht heißt, dass wir im Tal der Ahnungslosen lebten. Das Westfernsehen mit Colt Sievers, Simon und Simon oder dem
Trio mit vier Fäusten
war uns ein täglicher Begleiter. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil ARD und ZDF trotz 50 Kilometer Luftlinie bis zur Grenze das bessere Bild lieferten.
Mein Bruder und ich entwickelten das Spiel "Raten", bei dem es darum ging, herauszufinden, um welches Produkt es sich im jeweiligen Westfernseh-Spot handelte, bevor es zu sehen war. Und dennoch: Dass zwischen dem Westen und der gleichnamigen Himmelsrichtung ein Zusammenhang existierte, daran dachten wir nicht.
Dann lag also dieser Atlas unterm Weihnachtsbaum. Mit einem Satellitenbild unseres blauen Planeten auf dem Umschlag. Ich wunderte mich darüber, dass Länder wie die BRD, Frankreich oder Großbritannien – die kapitalistischen Feinde – im Atlas verzeichnet waren. Welcher DDR-Bürger, fragte ich mich damals, braucht denn so was? Braucht heute vielleicht irgendjemand eine Karte der Rückseite des Mondes?
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