Quelltext
Der blaue Planet
Ich dachte, im Westen höre die Welt auf und die DDR brauche keine Landkarten. Doch dann kam mein Atlas.
Das erste Buch, das mein Leben veränderte, war die Fibel. Sie hieß damals tatsächlich noch so. Ich erinnere mich an den orangefarbenen Pappdeckel mit den gemalten Kindern drauf, an die riesigen Lettern am Anfang, die mit fortschreitenden Seitenzahlen immer mehr schrumpften. Vor der Fibel waren es Bilderbücher, die mich packten, nach der Fibel verschlang ich unzählbar viele Romane.
Das Buch, das mein Leben wohl am meisten geprägt hat, erzählt keine Geschichte. Seine Bilder zeigen nichts als verschieden gefärbte Flächen, auf denen ein Gewirr aus roten, schwarzen und blauen Linien eine Ansammlung kleiner und großer Punkte verbindet. Irgendwann in den achtziger Jahren muss sie unter meinem Weihnachtsbaum gelegen haben – Die Erde aus der Reihe Haack Kleiner Atlas .
Vielleicht war das Buch so wichtig, weil ich in der DDR aufgewachsen bin: Als ich geboren wurde, stand die Mauer längst und die Welt war für uns ein theoretisches Konzept, ferner als heute vielleicht der Jupiter.
Vor der Haustür lag die Tschechei, deren offiziellen Namen ("Tschechoslowakische Sozialistische Republik") nicht einmal meine Lehrer benutzten. Ein Land, von dem ich zumindest wusste, dass die Oblaten und Schokolinsen dort aussahen wie Smarties. Für manche gab es noch Ungarn, Rumänien und Bulgarien am Horizont, für diejenigen mit Weitblick vielleicht noch die Sowjetunion. Jenseits dieser Länder war die Welt vorbei. Der Westen war in meinem Bewusstsein so eine Art Himmel oder Hölle, ein Ort jenseits dieser Welt.
Was nicht heißt, dass wir im Tal der Ahnungslosen lebten. Das Westfernsehen mit Colt Sievers, Simon und Simon oder dem Trio mit vier Fäusten war uns ein täglicher Begleiter. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil ARD und ZDF trotz 50 Kilometer Luftlinie bis zur Grenze das bessere Bild lieferten. Mein Bruder und ich entwickelten das Spiel "Raten", bei dem es darum ging, herauszufinden, um welches Produkt es sich im jeweiligen Westfernseh-Spot handelte, bevor es zu sehen war. Und dennoch: Dass zwischen dem Westen und der gleichnamigen Himmelsrichtung ein Zusammenhang existierte, daran dachten wir nicht.
Dann lag also dieser Atlas unterm Weihnachtsbaum. Mit einem Satellitenbild unseres blauen Planeten auf dem Umschlag. Ich wunderte mich darüber, dass Länder wie die BRD, Frankreich oder Großbritannien – die kapitalistischen Feinde – im Atlas verzeichnet waren. Welcher DDR-Bürger, fragte ich mich damals, braucht denn so was? Braucht heute vielleicht irgendjemand eine Karte der Rückseite des Mondes?
Sogar die USA waren im Atlas abgebildet. Und Washington, wo dieser Reagan hockte, der nur darauf wartete, uns mit SDI und Atomraketen zu vernichten! Als einmal ein Kurzschluss die Sirene in unserem Dorf durcheinander gebracht und gegen zwei Uhr nachts den Atomalarm ausgelöst hatte, glaubte ich tatsächlich: Jetzt hat Ronald auf den Knopf gedrückt.
Das bemerkenswerte an diesem Atlas waren die umfangreichen Informationen zu den Ländern. Im Anhang führte er jedes Land der Erde an, die Flagge, die Hauptstadt, die Einwohnerzahlen, Quadratkilometer, und eine Reihe von großen Städten, abwärts geordnet nach den Bevölkerungszahlen. Auch hier wieder: Keine Scheu vor dem Kapitalismus. Im Straßenatlas meiner Mutter verschwanden Westberlin und alles jenseits von Hirschberg, Herleshausen und Marienborn hinter einer dicken weißen Nebelwand. Mein Kleiner Atlas vermerkte die Millionen von Tokio und Buenos Aires wie die von Moskau und Ho-Chi-Minh-Stadt.
Besonders stolz war ich, dass in diesem Ensemble sogar mein Heimatstädtchen Reichenbach als eine der größten Städte der DDR auftauchte, sich also zu den Weltstädten zählen durfte. Dass die Autoren sich dafür die Mühe gemacht hatten, alle Siedlungen der DDR zu verzeichnen, die mehr als 25.000 Einwohner hatten, war mir vollkommen egal.
Vielleicht fing es ja damals an, dass ich die Welt als Ganzes wahrnahm, als ich immer wieder im Atlas blätterte, mich von ihm davontragen ließ. Ich fuhr im Geiste mit dem Schnellzug von Hamburg nach München, immer entlang der dicken schwarzen Linie. Ich kaperte ein Schiff auf der tiefblauen Fläche zwischen Madagaskar und Indonesien. Ich lenkte ein Auto über die staubigen Wüstenhighways von Texas nach Colorado.
Ich machte mich mit dem Atlas regelmäßig auf virtuelle Weltreisen und fühlte mich trotzdem nicht eingesperrt. Irgendwie war ich davon überzeugt, die Grenzen als Erwachsener überwinden zu können. Vielleicht als berühmter Künstler, oder wenn im Westen auch endlich der Sozialismus siegen würde. Wer konnte das damals schon wissen?
Natürlich ist es anders gekommen, und ich bin mehr als froh darüber. Erst hat der Atlas die Grenzen für mich aufgehoben, dann die Weltpolitik. Ich habe es genossen. Ich habe in Südafrika den Pazifik angekräht, bei der Armeekontrolle im mexikanischen Überlandbus mit ein paar Gramm Tee im Schlüpfer, die ich für Haschisch hielt, um mein Leben gezittert, wurde mit einem Freund in Utah von einer aufgebrachten Mormonenmutter aus dem Lokal geschmissen, weil wir ihre Tochter angebaggert hatten. Ich habe in einer spanischen Kommune mit dreißig Aussteigern Händchen haltend das große Ohm angestimmt, bin in schottischen Highlands bis zum Bauchnabel im Moor versunken, hab von einem national-konservativen, russischen Rammstein-Fan in Petersburg Schläge eingesteckt. Ich habe besoffen einem Fischer auf Malta geholfen, seinen Haifang vom Boot zum Auto zu tragen.
Der
Kleine Atlas
hat mich gelehrt, wie klein die Welt ist. Immer noch geht meine Phantasie beim Anblick von Landkarten auf Reisen. Und ich muss ihr hinterher, wenn ich von aberwitzigen Städten lese. Bin ich tatsächlich irgendwo angekommen, ist es schön, aber am allerschönsten ist es in Bewegung.
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09 /
2007
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