Sogar die USA waren im Atlas abgebildet. Und Washington, wo dieser Reagan hockte, der nur darauf wartete, uns mit SDI und Atomraketen zu vernichten! Als einmal ein Kurzschluss die Sirene in unserem Dorf durcheinander gebracht und gegen zwei Uhr nachts den Atomalarm ausgelöst hatte, glaubte ich tatsächlich: Jetzt hat Ronald auf den Knopf gedrückt.
Das bemerkenswerte an diesem Atlas waren die umfangreichen Informationen zu den Ländern. Im Anhang führte er jedes Land der Erde an, die Flagge, die Hauptstadt, die Einwohnerzahlen, Quadratkilometer, und eine Reihe von großen Städten, abwärts geordnet nach den Bevölkerungszahlen.
Auch hier wieder: Keine Scheu vor dem Kapitalismus. Im Straßenatlas meiner Mutter verschwanden Westberlin und alles jenseits von Hirschberg, Herleshausen und Marienborn hinter einer dicken weißen Nebelwand. Mein Kleiner Atlas vermerkte die Millionen von Tokio und Buenos Aires wie die von Moskau und Ho-Chi-Minh-Stadt.
Besonders stolz war ich, dass in diesem Ensemble sogar mein Heimatstädtchen Reichenbach als eine der größten Städte der DDR auftauchte, sich also zu den Weltstädten zählen durfte. Dass die Autoren sich dafür die Mühe gemacht hatten, alle Siedlungen der DDR zu verzeichnen, die mehr als 25.000 Einwohner hatten, war mir vollkommen egal.
Vielleicht fing es ja damals an, dass ich die Welt als Ganzes wahrnahm, als ich immer wieder im Atlas blätterte, mich von ihm davontragen ließ. Ich fuhr im Geiste mit dem Schnellzug von Hamburg nach München, immer entlang der dicken schwarzen Linie. Ich kaperte ein Schiff auf der tiefblauen Fläche zwischen Madagaskar und Indonesien. Ich lenkte ein Auto über die staubigen Wüstenhighways von Texas nach Colorado.
Ich machte mich mit dem Atlas regelmäßig auf virtuelle Weltreisen und fühlte mich trotzdem nicht eingesperrt. Irgendwie war ich davon überzeugt, die Grenzen als Erwachsener überwinden zu können. Vielleicht als berühmter Künstler, oder wenn im Westen auch endlich der Sozialismus siegen würde. Wer konnte das damals schon wissen?
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Natürlich ist es anders gekommen, und ich bin mehr als froh darüber. Erst hat der Atlas die Grenzen für mich aufgehoben, dann die Weltpolitik. Ich habe es genossen. Ich habe in Südafrika den Pazifik angekräht, bei der Armeekontrolle im mexikanischen Überlandbus mit ein paar Gramm Tee im Schlüpfer, die ich für Haschisch hielt, um mein Leben gezittert, wurde mit einem Freund in Utah von einer aufgebrachten Mormonenmutter aus dem Lokal geschmissen, weil wir ihre Tochter angebaggert hatten.
Ich habe in einer spanischen Kommune mit dreißig Aussteigern Händchen haltend das große Ohm angestimmt, bin in schottischen Highlands bis zum Bauchnabel im Moor versunken, hab von einem national-konservativen, russischen Rammstein-Fan in Petersburg Schläge eingesteckt. Ich habe besoffen einem Fischer auf Malta geholfen, seinen Haifang vom Boot zum Auto zu tragen.
Der
Kleine Atlas
hat mich gelehrt, wie klein die Welt ist. Immer noch geht meine Phantasie beim Anblick von Landkarten auf Reisen. Und ich muss ihr hinterher, wenn ich von aberwitzigen Städten lese. Bin ich tatsächlich irgendwo angekommen, ist es schön, aber am allerschönsten ist es in Bewegung.