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Kurzgeschichte

Eine Familiengeschichte

Ich wollte eigentlich von etwas anderem erzählen, aber gerade wird eine Kinderleiche vor mir aus dem Fluss geborgen. "Es hat es selbst so entschieden", sagt die Mutter.

"When my kids were young I played a
game with them. I'd give each of them
a stick. One for each of 'em, and I'd tell
them to break it. They'd do that easy.
Then I'd tell them to make one bundle
of all the sticks and try to break that.
A course they couldn't. I used to say that
was family, that bundle."

(The Straight Story)

Ich wollte eigentlich von etwas anderem erzählen, aber gerade wird eine Kinderleiche vor mir aus dem Fluss geborgen und ich kann mitfühlen, wie es den Eltern gehen wird, wenn sie davon erfahren. Ich hoffe, dass es so ist. Denn ich höre jeden Tag von Neugeborenen in Kühlschränken, die Familie versklavenden Vätern, ihre Töchter im Internet versteigernden Müttern, tötenden Brüdern, brennenden Babys. Zwangsverheirateten Teenagern, die sich die Freiheit erklagen müssen. In den Bestsellerlisten Bücher, in denen unsere Kinder als Tyrannen und psychische Monster beschrieben werden.

Das Prinzip Familie, diese generationsübergreifende, angeblich naturgegebene Zweckgemeinschaft, ist überholt, ohne Zweifel. Eine rottige Frucht entblößt ihren fauligen Kern, der aus Beeinflussung, Kontrolle und Ausbeutung besteht. Vielleicht sehe ich die Dinge aber auch nur zu verbissen. Mein Nachbar ist Ökonom und er sagt, dass es kein Wunder sei. Seitdem sie ihre Funktion als Altersvorsorge verloren haben, schützt die Kinder kein Nutzen mehr. Aus einer Investition wird ein Kostenfaktor. Aus dem Prestige der Schwangerschaft ein gesellschaftliche Herabstufung forcierendes Versehen, und während das Haustier zumindest im Welpenalter noch niedlich ist, ist das eigene Kind bereits direkt nach der Geburt ein Gestank, Lärm und Schmutz produzierender Stressfaktor.

Nichts behindert die Selbstverwirklichung mehr als ein Kind oder die Gefangenschaft im Schoß der Zwangsgemeinschaft Familie. Der Mensch ist lieber ungebunden. Das bedeutet auf sich selbst gestellt, frei, allein. Wissenschaftler mahnen ein Verschwinden der Fähigkeit zur Empathie an, das käme bereits deutlich in den Kindergärten zum Ausdruck. Die Situation eskaliert also.

Wir haben Glück, das Kind ist wahrscheinlich nur ertrunken. Keine offenkundigen Spuren von Gewalteinwirkung. Kein Rattenschwanz an Ermittlungen, Beamte, die Geschwister und Nachbarn befragen, Beamte im Kindergarten, Beamte auf dem Spielplatz. Eine Obduktion ist trotzdem per Gesetz angeordnet. Auch die Bösen werden professioneller.

Die niedersächsische Kleinstadt, in der ich lebe, ist eine von denen, in der man nachts in der Fußgängerzone regelmäßig kontrolliert wird. Vandalismus ist hier fast ausgeschlossen. Wenn am Wochenende mal ein Jägerzaun eingetreten wird, lässt sich die Spur schnell zu einer Gruppe bierseliger Jugendlicher zurückverfolgen, der kleinen Handvoll Auffälliger, die die übliche Juvenilitäts-Quote erfüllen. Und während das Schreiben für Magazine wie diesem hier einen nicht gerade über Wasser halten kann, tut es doch ein Job bei der örtlichen Tageszeitung, die sich natürlich als überparteilich und unabhängig präsentiert, in Wirklichkeit aber mit den Führungsriegen aus Politik und Wirtschaft der Region eng verquickt ist. Von daher werden traditionelle, manche sagen: humanistische und christliche Werte gefördert, wie es seit Beginn des Wirtschaftswunders der Fall ist. Wir müssen: Zusammenhalten. Die Familie. Den Besitz.

Wer nicht ein Teil eines nach Außen intakten Vater-Mutter-Kind-Gefüges ist, muss sich rechtfertigen, bleibt hier ein Sonderfall, auch wenn die Alleinerziehenden und Alternativmodelle prozentual längst weit vorne liegen. Eigentlich riecht es nach Umverteilung der Gelder und Mittel, aber der dem Bürger zugedachte Idealzustand einer Lebensgemeinschaft bleibt: die Familie. Ich muss das wissen. Ich bin der Gerichtsreporter. Ich bin auch bei den scheinbar öden und unwichtigen Terminen vor Ort.

Dann, wenn es um Vormundschaften, Unterhalt, Kindergartenplätze oder Steuern geht. Wenn der Mann keine Familie hat, sieht er vielleicht keine Veranlassung zu arbeiten, haben sie argumentiert. In einer Welt ohne Kinder würden die Frauen für die Männer arbeiten und diese blieben zu Hause. Das bedeutet auch, dass Haushalt und Kinder offenbar das größere Übel sind. Aber im Ernst: Der Trick ist, die Kosten so enorm steigen zu lassen, dass beide Elternteile arbeiten gehen müssen, um ihren Doppelhaushälften-Mindest-Standard inklusive Must-Dos wie Urlaub und Zweitwagen zu finanzieren, den örtlichen Übereinkünften zu genügen. In der Stadt und bei den Einzelkämpfern, da ist es schon lange so, nun wird flächendeckend die Notwendigkeit der Ganztagsschule diagnostiziert. Paukenschlag! Meisterwerk! Alle Eltern bei der Arbeit, Kinder in der Obhut des Staates, "Ich glaube, wir haben die Sache im Griff, Sir!".

Sie sehen sich an den Abenden und am Wochenende, irgendwie, jeder führt mehr eigenes Leben als gemeinsames, und doch sind sie Vater, Mutter, Kind. Sie würden nie behaupten, sich fremd zu sein und doch sind die Tage zu dritt nie die Norm, was seltsam ist und einschneidend, denn jetzt spüren Kinder wie Eltern die Distanz. Wer ist dieses Kind? denken sie, und es ist so, wie uns unsere Eltern fremd wurden, als wir älter wurden. Dieser Prozess der generativen Verwelkung steht allen Eltern bevor, die mit ihren Kindern leben. Es gibt nur eine Ausnahme.

Man sagt, dass ein Konservierungseffekt eintrete. Bei betroffenen Eltern wären bei Verlust eines Kindes körpereigene Altersprozesse extrem verzögert, ein Effekt, der bei bestimmten Konstellationen des individuellen Hormonhaushalts, der erwartungsgemäss in so einer Trauer-und damit Stresssituation jenseits der Normbereiche aktiv ist, auftreten und zu ungewöhnlichen Reaktionen führen kann. Die einen nennen es Trauma, die anderen Alptraum. Als wären sie zur eigenen Qual und Strafe in einem auf Zeitlupentempo verlangsamten Leben gefangen. Dass das Opfern eines Kindes langjährige Jugend verspricht, ist allerdings nicht neu.

Schon damals schlug man gern zwei Fliegen mit einer Klappe. Opferte (oder verkaufte) das Kleine mal schnell, das brachte der Götter (später dann Geld-) Segen und ein Kindermaul weniger zu stopfen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die dümmsten Kinder aller Zeiten waren Hänsel und Gretel. Sie haben ihre Eltern gerettet.

Aber nicht alle haben so viel Glück wie die beiden. Die Obduktion ergibt: Das Kind war schon vorher tot. Es war an Schwäche gestorben.

Die Pressearbeiterin der Kripo bittet mich, erst einmal alle Informationen zurückzuhalten. Sie wolle keinen Presserummel wie bei all den anderen Sensationsmeldungen bezüglich Vorfällen, in die Kinder involviert seien, die seit geraumer Zeit zumindest die Boulevardpresse beherrschen. Das könne nicht im Sinne der Familie sein, die immerhin noch mehr Kinder hätte als nur das verstorbene. Das sah ich ein.

So sollte zum Beispiel niemand erfahren, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erheben würde gegen die Eltern. Ob wegen unterlassener Hilfeleistung oder Schwererem, wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Ermittlungen noch offen.

Weiterlesen im 2. Teil »


 
 



 

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