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Kurzgeschichte

Eine Familiengeschichte

TEIL 2

Manchmal fällt das Rudel Entscheidungen. Manchmal lässt man die Schwachen zurück zugunsten der Gruppe. Nur einer stirbt im Schnee.

Das Kind war einfach eingegangen, lebte im Haushalt der Familie quasi allein nebenher. Hätte die Nahrung verweigert. Ich denke an eine Topfpflanze, die man nie giesst und schließlich ganz hinter dem Vorhang vergisst. Während der Verhöre brach es ziemlich schnell aus den Eltern heraus. Die Trance, in der sie Jahre gelebt hatten, wurde ihnen schlagartig bewusst. Wie konnte es sein, dass unter ihnen einfach eines ihrer Kinder wegstarb, still, blass, dünn, schwach, krank, unsichtbar? Wie konnten sie tatenlos wegsehen und zusammen mit den beiden anderen Kindern ein normales Leben führen?

Es hätte bald in die Schule gemusst und war stets zu Hause, seine beiden Geschwister, jünger, im Kindergarten. Die Erzieherinnen gaben an, dass die Eltern beim Abholen ihrer beiden Sprösslinge stets liebevoll und aufmerksam schienen. Von einem dritten Kind wusste niemand etwas. Auch die anderen beiden hätten es nie erwähnt.

Sie legten die Leiche im Schilf ab. Gestorben war das Kind zu Hause im Bettchen. "Es hat es selbst so entschieden." ist der tragischste Satz, den Cordula P., die Mutter, vor Gericht aussagen wird, denn so wie sie ihn spricht, wird deutlich, wie sehr sie der Überzeugung ist, dass es so wahr ist; so sehr hallt in ihrer Stimme die Hilflosigkeit und Resignation nach, dass man kurz versucht ist, auf Mitleid zu plädieren. Was tut eine Mutter, die ein Kind hat, das sich innigst wünscht zu sterben, nicht hier zu sein auf dieser Welt? Was, wenn sie mit Schrecken erkennen muss, dass es ihr eigentlich genauso geht?

Der Vater schweigt. Er steht der Mutter bei, aber er war nie zu Hause. Dort nicht. Seine Kinder- er stockt. Da ist nichts, was ihm zu seinen Kindern einfällt.

Diese stillschweigende Übereinkunft, das eigentliche Todesurteil für das Kind, ist das eine Problem. Das andere ist die schreckliche Stille selbst, in der es geschieht. Diese Stille soll von niemandem gestört werden.

Mein Chefredakteur ordnet Zurückhaltung bei der Berichterstattung über diesen Fall an. So ein Fall stünde den Interessen der Region zur Zeit kontraproduktiv gegenüber. Daran müsse man denken.

Dieser Fall ist zu schrecklich, als dass er zu tief in das öffentliche Bewusstsein gelangen darf. Kinder und Eltern vernichten gemeinschaftlich die Grundfesten aller Ordnung. Das darf es nicht geben.

Es soll besser wie ein Unfall aussehen. Das tragische Unglück, das Drama für die Kurzmeldungen. Gekaufte Kleinst-Beiträge im Fernsehen tun ihr übriges. Die Eltern sind geständig. Niemand berichtet darüber. Stattdessen mehr Monster und wahnwitzige Geschichten über Folter und Terror und Sport.

Es gibt kein Gerichtsurteil. Das Verfahren ist noch offen. Gäbe es ein öffentliches Interesse an diesem Fall, man könnte beiden Parteien Verschleppung vorwerfen.

Der Bürgermeister lädt meinen Chef und mich zum Essen ein. Man nimmt meine Loyalität wohlwollend zur Kenntnis.

Eltern und Kinder sind vorerst wieder vereint zu Hause. Ein Team von Psychologen betreut die Familie.

Heute morgen war die Beerdigung. Ich muß zugeben: Die habe ich ganz verpasst.

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