Kurzgeschichte

Eine Familiengeschichte

Ich wollte eigentlich von etwas anderem erzählen, aber gerade wird eine Kinderleiche vor mir aus dem Fluss geborgen. "Es hat es selbst so entschieden", sagt die Mutter.

Von André Pluskwa

"When my kids were young I played a
game with them. I'd give each of them
a stick. One for each of 'em, and I'd tell
them to break it. They'd do that easy.
Then I'd tell them to make one bundle
of all the sticks and try to break that.
A course they couldn't. I used to say that
was family, that bundle."

(The Straight Story)

Ich wollte eigentlich von etwas anderem erzählen, aber gerade wird eine Kinderleiche vor mir aus dem Fluss geborgen und ich kann mitfühlen, wie es den Eltern gehen wird, wenn sie davon erfahren. Ich hoffe, dass es so ist. Denn ich höre jeden Tag von Neugeborenen in Kühlschränken, die Familie versklavenden Vätern, ihre Töchter im Internet versteigernden Müttern, tötenden Brüdern, brennenden Babys. Zwangsverheirateten Teenagern, die sich die Freiheit erklagen müssen. In den Bestsellerlisten Bücher, in denen unsere Kinder als Tyrannen und psychische Monster beschrieben werden.

Das Prinzip Familie, diese generationsübergreifende, angeblich naturgegebene Zweckgemeinschaft, ist überholt, ohne Zweifel. Eine rottige Frucht entblößt ihren fauligen Kern, der aus Beeinflussung, Kontrolle und Ausbeutung besteht. Vielleicht sehe ich die Dinge aber auch nur zu verbissen. Mein Nachbar ist Ökonom und er sagt, dass es kein Wunder sei. Seitdem sie ihre Funktion als Altersvorsorge verloren haben, schützt die Kinder kein Nutzen mehr. Aus einer Investition wird ein Kostenfaktor. Aus dem Prestige der Schwangerschaft ein gesellschaftliche Herabstufung forcierendes Versehen, und während das Haustier zumindest im Welpenalter noch niedlich ist, ist das eigene Kind bereits direkt nach der Geburt ein Gestank, Lärm und Schmutz produzierender Stressfaktor.

Nichts behindert die Selbstverwirklichung mehr als ein Kind oder die Gefangenschaft im Schoß der Zwangsgemeinschaft Familie. Der Mensch ist lieber ungebunden. Das bedeutet auf sich selbst gestellt, frei, allein. Wissenschaftler mahnen ein Verschwinden der Fähigkeit zur Empathie an, das käme bereits deutlich in den Kindergärten zum Ausdruck. Die Situation eskaliert also.

Wir haben Glück, das Kind ist wahrscheinlich nur ertrunken. Keine offenkundigen Spuren von Gewalteinwirkung. Kein Rattenschwanz an Ermittlungen, Beamte, die Geschwister und Nachbarn befragen, Beamte im Kindergarten, Beamte auf dem Spielplatz. Eine Obduktion ist trotzdem per Gesetz angeordnet. Auch die Bösen werden professioneller.

Die niedersächsische Kleinstadt, in der ich lebe, ist eine von denen, in der man nachts in der Fußgängerzone regelmäßig kontrolliert wird. Vandalismus ist hier fast ausgeschlossen. Wenn am Wochenende mal ein Jägerzaun eingetreten wird, lässt sich die Spur schnell zu einer Gruppe bierseliger Jugendlicher zurückverfolgen, der kleinen Handvoll Auffälliger, die die übliche Juvenilitäts-Quote erfüllen. Und während das Schreiben für Magazine wie diesem hier einen nicht gerade über Wasser halten kann, tut es doch ein Job bei der örtlichen Tageszeitung, die sich natürlich als überparteilich und unabhängig präsentiert, in Wirklichkeit aber mit den Führungsriegen aus Politik und Wirtschaft der Region eng verquickt ist. Von daher werden traditionelle, manche sagen: humanistische und christliche Werte gefördert, wie es seit Beginn des Wirtschaftswunders der Fall ist. Wir müssen: Zusammenhalten. Die Familie. Den Besitz.

Wer nicht ein Teil eines nach Außen intakten Vater-Mutter-Kind-Gefüges ist, muss sich rechtfertigen, bleibt hier ein Sonderfall, auch wenn die Alleinerziehenden und Alternativmodelle prozentual längst weit vorne liegen. Eigentlich riecht es nach Umverteilung der Gelder und Mittel, aber der dem Bürger zugedachte Idealzustand einer Lebensgemeinschaft bleibt: die Familie. Ich muss das wissen. Ich bin der Gerichtsreporter. Ich bin auch bei den scheinbar öden und unwichtigen Terminen vor Ort.

Dann, wenn es um Vormundschaften, Unterhalt, Kindergartenplätze oder Steuern geht. Wenn der Mann keine Familie hat, sieht er vielleicht keine Veranlassung zu arbeiten, haben sie argumentiert. In einer Welt ohne Kinder würden die Frauen für die Männer arbeiten und diese blieben zu Hause. Das bedeutet auch, dass Haushalt und Kinder offenbar das größere Übel sind. Aber im Ernst: Der Trick ist, die Kosten so enorm steigen zu lassen, dass beide Elternteile arbeiten gehen müssen, um ihren Doppelhaushälften-Mindest-Standard inklusive Must-Dos wie Urlaub und Zweitwagen zu finanzieren, den örtlichen Übereinkünften zu genügen. In der Stadt und bei den Einzelkämpfern, da ist es schon lange so, nun wird flächendeckend die Notwendigkeit der Ganztagsschule diagnostiziert. Paukenschlag! Meisterwerk! Alle Eltern bei der Arbeit, Kinder in der Obhut des Staates, "Ich glaube, wir haben die Sache im Griff, Sir!".

Sie sehen sich an den Abenden und am Wochenende, irgendwie, jeder führt mehr eigenes Leben als gemeinsames, und doch sind sie Vater, Mutter, Kind. Sie würden nie behaupten, sich fremd zu sein und doch sind die Tage zu dritt nie die Norm, was seltsam ist und einschneidend, denn jetzt spüren Kinder wie Eltern die Distanz. Wer ist dieses Kind? denken sie, und es ist so, wie uns unsere Eltern fremd wurden, als wir älter wurden. Dieser Prozess der generativen Verwelkung steht allen Eltern bevor, die mit ihren Kindern leben. Es gibt nur eine Ausnahme.

Man sagt, dass ein Konservierungseffekt eintrete. Bei betroffenen Eltern wären bei Verlust eines Kindes körpereigene Altersprozesse extrem verzögert, ein Effekt, der bei bestimmten Konstellationen des individuellen Hormonhaushalts, der erwartungsgemäss in so einer Trauer-und damit Stresssituation jenseits der Normbereiche aktiv ist, auftreten und zu ungewöhnlichen Reaktionen führen kann. Die einen nennen es Trauma, die anderen Alptraum. Als wären sie zur eigenen Qual und Strafe in einem auf Zeitlupentempo verlangsamten Leben gefangen. Dass das Opfern eines Kindes langjährige Jugend verspricht, ist allerdings nicht neu.

Schon damals schlug man gern zwei Fliegen mit einer Klappe. Opferte (oder verkaufte) das Kleine mal schnell, das brachte der Götter (später dann Geld-) Segen und ein Kindermaul weniger zu stopfen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die dümmsten Kinder aller Zeiten waren Hänsel und Gretel. Sie haben ihre Eltern gerettet.

Aber nicht alle haben so viel Glück wie die beiden. Die Obduktion ergibt: Das Kind war schon vorher tot. Es war an Schwäche gestorben.

Die Pressearbeiterin der Kripo bittet mich, erst einmal alle Informationen zurückzuhalten. Sie wolle keinen Presserummel wie bei all den anderen Sensationsmeldungen bezüglich Vorfällen, in die Kinder involviert seien, die seit geraumer Zeit zumindest die Boulevardpresse beherrschen. Das könne nicht im Sinne der Familie sein, die immerhin noch mehr Kinder hätte als nur das verstorbene. Das sah ich ein.

So sollte zum Beispiel niemand erfahren, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erheben würde gegen die Eltern. Ob wegen unterlassener Hilfeleistung oder Schwererem, wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Ermittlungen noch offen.

Manchmal fällt das Rudel Entscheidungen. Manchmal lässt man die Schwachen zurück zugunsten der Gruppe. Nur einer stirbt im Schnee.

Das Kind war einfach eingegangen, lebte im Haushalt der Familie quasi allein nebenher. Hätte die Nahrung verweigert. Ich denke an eine Topfpflanze, die man nie giesst und schließlich ganz hinter dem Vorhang vergisst. Während der Verhöre brach es ziemlich schnell aus den Eltern heraus. Die Trance, in der sie Jahre gelebt hatten, wurde ihnen schlagartig bewusst. Wie konnte es sein, dass unter ihnen einfach eines ihrer Kinder wegstarb, still, blass, dünn, schwach, krank, unsichtbar? Wie konnten sie tatenlos wegsehen und zusammen mit den beiden anderen Kindern ein normales Leben führen?

Es hätte bald in die Schule gemusst und war stets zu Hause, seine beiden Geschwister, jünger, im Kindergarten. Die Erzieherinnen gaben an, dass die Eltern beim Abholen ihrer beiden Sprösslinge stets liebevoll und aufmerksam schienen. Von einem dritten Kind wusste niemand etwas. Auch die anderen beiden hätten es nie erwähnt.

Sie legten die Leiche im Schilf ab. Gestorben war das Kind zu Hause im Bettchen. "Es hat es selbst so entschieden." ist der tragischste Satz, den Cordula P., die Mutter, vor Gericht aussagen wird, denn so wie sie ihn spricht, wird deutlich, wie sehr sie der Überzeugung ist, dass es so wahr ist; so sehr hallt in ihrer Stimme die Hilflosigkeit und Resignation nach, dass man kurz versucht ist, auf Mitleid zu plädieren. Was tut eine Mutter, die ein Kind hat, das sich innigst wünscht zu sterben, nicht hier zu sein auf dieser Welt? Was, wenn sie mit Schrecken erkennen muss, dass es ihr eigentlich genauso geht?

Der Vater schweigt. Er steht der Mutter bei, aber er war nie zu Hause. Dort nicht. Seine Kinder- er stockt. Da ist nichts, was ihm zu seinen Kindern einfällt.

Diese stillschweigende Übereinkunft, das eigentliche Todesurteil für das Kind, ist das eine Problem. Das andere ist die schreckliche Stille selbst, in der es geschieht. Diese Stille soll von niemandem gestört werden.

Mein Chefredakteur ordnet Zurückhaltung bei der Berichterstattung über diesen Fall an. So ein Fall stünde den Interessen der Region zur Zeit kontraproduktiv gegenüber. Daran müsse man denken.

Dieser Fall ist zu schrecklich, als dass er zu tief in das öffentliche Bewusstsein gelangen darf. Kinder und Eltern vernichten gemeinschaftlich die Grundfesten aller Ordnung. Das darf es nicht geben.

Es soll besser wie ein Unfall aussehen. Das tragische Unglück, das Drama für die Kurzmeldungen. Gekaufte Kleinst-Beiträge im Fernsehen tun ihr übriges. Die Eltern sind geständig. Niemand berichtet darüber. Stattdessen mehr Monster und wahnwitzige Geschichten über Folter und Terror und Sport.

Es gibt kein Gerichtsurteil. Das Verfahren ist noch offen. Gäbe es ein öffentliches Interesse an diesem Fall, man könnte beiden Parteien Verschleppung vorwerfen.

Der Bürgermeister lädt meinen Chef und mich zum Essen ein. Man nimmt meine Loyalität wohlwollend zur Kenntnis.

Eltern und Kinder sind vorerst wieder vereint zu Hause. Ein Team von Psychologen betreut die Familie.

Heute morgen war die Beerdigung. Ich muß zugeben: Die habe ich ganz verpasst.

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52 / 2008
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