Früher waren Fernreisen mal was. Doch wann ist das letzte Mal jemand mit dem Bus von Tirana nach Hannover gefahren? Eine Geschichte von verliebten Albanern und verliebten Kosovaren...
von Ella Carina Werner
Ach, wir leben in finsteren Zeiten! In denen Fahrten über vier Stunden schon als Zumutung gelten. In denen man seinen Hintern nur noch vom Taxi ins Flugzeug schiebt und wieder zurück. In denen Fernraumorientierung und Faulheit proportional zueinander grassieren. Wo ist er nur hin, der Respekt vor der Weite der Welt? Wohin das Gefühl für räumliche Distanz? Wer weiß noch, wie Entfernung schmeckt? Wie sich ein eingeschlafener Hintern anfühlt? Wie ein Busklo von innen aussieht?
Einzig die transsibirische Eisenbahn hat noch Konjunktur, denn die hat den Exotikbonus. Die Transeuropäische hat ausgedient. Ade, Balkan- und Bagdad-Express! Und ade, Autoput! Denn kaum jemand nimmt mehr die gute alte Autobahn quer über den Balkan, übersäht von Querrillen und Löchern. Volle Blasen und leere Geldbörsen nach illegalem Wegzoll; bulgarische Lastwagenfahrer lieferten sich Wettrennen mit türkischen Gastarbeitern und deutschen Touristen; die Jugoslawen mussten ein Krankenhaus extra für die Strecke bauen, so viele Unfälle gab es. Das waren Zeiten!
Reisen, sage ich, nicht rasen
"Reisen, sage ich, nicht rasen", schrieb schon der Dichter Otto Julius Bierbaum 1902, und: "Wer die Wollust dieses Dahinrollens kennt, ersehnt sich nicht mehr die Kunst des Fliegens. Fest auf der Erde, aber wie im Sturm dahin. Hügel hurtig hinauf und brausend hinab", frohlockte er, schob seinen Hintern ins Automobil und erst zwanzig Stunden später wieder hinaus. Wie weise. Denn Raumüberwindung rockt; lange Fahrten haben ein immenses Flausenpotential, und je länger und unkomfortabler sie sind, desto mehr. Weil Unterwegssein Improvisieren heißt, neue Lösungen, kleinste Übel finden, karge Spielräume optimal ausreizen.
Wer also wieder wissen will, was Raum ist, was Distanz, der fahre ebenerdig von Deutschland auf den Balkan und wieder zurück. Denn das ist so intensiv wie Barfuss durchs Gras. Die schönste aller Strecken: Per Bus und Fähre von Albanien nach Deutschland in lumpigen 46 Stunden. Hin- und zurück der ideale Kurztrip über Silvester.
Ein bisschen Kreuzfahrtromantik
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Eine Fahrt von Tirana nach Hannover bietet alles, was unsereins begehrt: Panoramablicke, Sozialkontakte, Grundkenntnisse in Korruption und Entbehrung. Ein bisschen Elendstourismus, ein bisschen Kreuzfahrtromantik, auch ein bisschen Bumstourismus ist drin und spart die Kosten für eine Kajüte, denn ein weißhaariger Glutäugiger findet sich immer, der einem das Angebot unterbreitet, mit ihm ein Zimmer zu teilen.
Das Herzstück der Reise ist die Fährüberfahrt vom albanischen Durrës nach Bari, Italien. Um 20 Uhr ist unser Bus im Hafen, um 23 Uhr soll die Flotte starten, doch ist weit und breit keine in Sicht. Drum warten wir die ganze Nacht – der ideale Zeitraum, um Kontakte zu knüpfen.
Notdurft macht erfinderisch
Der einfachste Gesprächsauftakt ist die Suche nach Toiletten, denn im Dunkeln ist auf dem riesigen Parkplatz keine zu finden und die Busfahrer halten die ihrigen hinter Schloss und Riegel. Aber Notdurft macht erfinderisch, und so wird kurzerhand die nach oben gerichtete Schaufel eines Baggerwracks zum kollektiven Klo umfunktioniert.
Um 6 Uhr in der Früh geht’s schließlich an Deck. Ein riesiger Aufenthaltsraum mit dem Charme einer Turnhalle; oben grelle Neonröhren, unten graue Sitzgruppen im Halbrund. Meine neu gewonnenen zehn kosovarischen Kumpels ergattern freie Plätze, nehmen mich in die Mitte und wollen alles wissen. Aber eigentlich nur eines: "Sag mal, wer sind die besten im Bett? Die Albaner, die Deutschen… sag!" Zwanzig Glutaugen auf mich gerichtet. "Die Serben", sage ich. Zwanzig Glutaugen gekränkt zu Boden gesenkt. Und irgendwann dann fallen auch ihre Augen zu, und die schlafenden Körper derer, die kein Geld für eine Kajüte haben, türmen sich immer höher. Wildfremde Menschen schlummern Wange an Wange, Fuß über Schulter. Nur ein paar Schnarcher durchbrechen die Grabesstille. In vielen Mythen dienen Fähren dazu, die Seelen der Toten in die Unterwelt zu schleusen – so sieht es auch hier aus.
Volle Kotztüten und leere Kajüten
Die Angebote der Weißhaarigen ausschlagend, investiere ich lieber doch ein paar Euros und versuche, mit drei albanischen Frauen eine Kajüte zu kriegen. Dutzende Türen stehen offen, doch die Damen an der Rezeption repetieren auf unsere Bitte immer wieder gelangweilt: "Later. Later perhaps." Wir schieben einer Dame unter der Hand zehn Euro zu, schon ist eine Kajüte frei.
Am Mittag treffe ich meine kosovarischen Kumpels wieder. "Ihr könnt bei mir duschen", sage ich naiv. Sie grinsen lasziv. Die Luft ist rein, meine Zimmergenossinnen an Deck. Ich schleuse die Jungs rein. Ein unbekannter Herr hat sich in die Gruppe geschmuggelt. Hübsch nach der Reihe gehen sie ins Bad, geben sich die Klinke und mein Handtuch in die Hand. Während der letzte duscht, verduften die anderen wie auf Kommando. Bloß im Slip kehrt jener zurück. "Ella, du denkst doch nicht, ich will nur duschen?" Ich lache und weise ihm die Tür. "Du meinst ja, aber du sagst nein", grinst er. "Du willst, aber du hast Angst!" Südosteuropäischer Chauvinismus in Perfektion. "Ella, du hast den größten Fehler deines Lebens begangen", und: "Ella, du wirst es immer bereuen", wird er mir später im Bus hundertfach zuraunen, ich werde nicken und er sich freuen, aber noch sind wir an Bord. Es klopft. Eine albanische Großfamilie steht vor der Tür. Ob sie mal bei mir kotzen dürften, wegen dem Seegang? "Immer man rein", flöte ich und reiche ihnen mein Handtuch. Und gehe an Deck. Nasen, Haare und Kotztüten flattern im Wind, und von Ferne winkt Italien.
Raststättenzauber. Leitplankengeplänkel
Und dann geht’s weitere 18 Stunden im albanischen Bus-Konvoi. Ob mir irgendwer sagen könne, welcher der drei Busse in Hannover hält? "Mädchen, kein Stress", grummeln die Fahrer, "das knobeln wir noch aus." Derweil werden die letzten Fresskörbe durch die Reihen gereicht, die letzten Maisfladen und gerösteten Maiskörner verputzt. Die Stimmung bleibt gelassen. Ich staune; diese langmütigen Albaner mit ihrer Eselsgeduld lassen sich noch den letzten Tropfen Maissaft auf der Zunge zergehen. Und so geht es fort, toskanische, alpine und bayrische Hügel hurtig hinauf und hinab. Raststättenzauber. Leitplankengeplänkel. Und dann sind wir plötzlich da. Ich steige aus. Und mir geht es blendend. Denn die Freude über diese Fahrt macht jedes Hunger-, Müdigkeits- und Durchfallgefühl wieder wett.