Lee ist jung und glaubt, dass die RAF im Prinzip Recht hatte. Dass es eine Ausbeuterklasse gibt und Gewalt, die richtig ist.
Nicole Alexander hat mit ihm gesprochen
U-Bahnhof Gesundbrunnen, Berlin-Wedding, mittags kurz vor zwölf. Ein paar junge Männer hängen am Zeitungskiosk auf dem Bahnsteig der Linie 8 herum. Ob einer von ihnen Lee ist, mit dem ich hier verabredet bin? Ich weiß nur, dass er Ende zwanzig ist und Mitglied des
Roten Oktober
. Diese Organisation hat sich zur Nachfolgerin der KPD ernannt, die 1956 vom Bundesverfassungsgericht verboten wurde. Ihr Ziel: Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch eine sozialistische Revolution nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution.
Warum hängen junge Leute einem Weltbild an, in dem Mitmenschen entweder "Kapitalistenschweine" oder "ArbeiterInnen" genannt werden? Das soll Lee mir erklären. Er ist ein großer, schlaksiger Typ, hat dunkelblondes Haar und trägt einen schwarzen Anorak, Palästinensertuch um den Hals. In der linken Hand bringt er eine Ausgabe von
Roter Oktober
mit, so heißt die Zeitschrift der Organisation.
Hallo Lee. Ist das dein richtiger Name?
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Weshalb benutzt ihr Tarnnamen?
Weil in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen damit gemacht wurden, dass viele Funktionäre der Kommunistischen Partei öffentlich bekannt waren. Im Dritten Reich zum Beispiel wurde die Führungsriege der Kommunistischen Partei systematisch umgebracht. Mehr als 150.000 KP-Mitglieder sind damals in den Knast gewandert oder ermordet worden.
Du vergleichst die Bundesrepublik mit dem Dritten Reich?
Nein, natürlich nicht. Da gibt es schon große Unterschiede. Aber auch heute werden politische Bewegungen massiv unterdrückt. Die KPD wurde 1956 verboten. Und bis heute werden Berufsverbote verhängt. Wir haben ja auch eine Verantwortung gegenüber unseren Mitgliedern, deshalb versuchen wir, sie zu schützen.
Fühlt ihr euch beobachtet?
Manche Mitglieder werden ganz offen vom Staatsapparat observiert, vor deren Haustür stehen schon mal Polizisten. Aber es gibt auch verdeckte Repressionen: du gehst zur Arbeit, und wenn du zurückkommst, stellst du fest, dass jemand in deiner Wohnung war. Möbel wurden verrückt, Gegenstände entwendet, Flüssigkeiten in die Toilette gegossen. Damit testet der Staatsapparat, ob du psychologisch standfest bist oder ob du dich relativ leicht beeinflussen lässt. Ein typisches Verfahren des Verfassungsschutzes, um Leute einzuschüchtern.
Wie bist du dazu gekommen, dich dem
Roten Oktober
anzuschließen?
Anzeige
In den neunziger Jahren hat es mehrere Brandanschläge auf Asylbewerberheime gegeben. Da ist mir klar geworden, welche Gefahr auch heute noch von den Faschisten ausgeht.
Aber deshalb wird man nicht gleich Kommunist.
Natürlich war das so ein allmählicher Prozess bei mir. Zunächst habe ich mich in Antifa-Gruppen engagiert, bin auf Demos gegangen. Dann habe ich angefangen, mich inhaltlich mit dem Faschismus zu beschäftigen, und erkannt, dass der Kapitalismus unweigerlich zum Faschismus führt. Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsordnung, die auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht. Und der Faschismus setzt sie mit besonders drastischen Repressionen durch. Wenn man das erkannt hat, kann man nicht mehr einfach nur Antifaschist sein. Dann muss man die herrschende Gesellschaftsordnung als solche in Frage stellen. Ich hatte damals auch kurz Kontakt zur PDS. Aber deren Sozialismusvorstellungen haben mit Marx und Engels nicht viel zu tun. Das ist beim
Roten Oktober
ganz anders.
Der
Rote Oktober
beruft sich nicht nur auf Marx und Engels. Auf der Webseite wird Stalin als "bedeutendste Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts" bezeichnet. Das könnt Ihr nicht ernst meinen, Stalins Säuberungsaktionen haben in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts fast eine Million Menschenleben gefordert.
Klar gab es die
Moskauer Prozesse
. Aber viele Journalisten, auch aus dem westlichen Ausland, haben hinterher gesagt: Das waren faire Prozesse. Die Angeklagten waren Terroristen und darauf standen in der Sowjetunion nun einmal bestimmte Strafen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die bürgerliche Presse natürlich versucht, Stalin zu dämonisieren. Was da verbreitet wird, muss man sich schon ganz genau anschauen. Die offiziellen Geschichtsbücher bei uns stellen doch nur Behauptungen auf, arbeiten ohne Belege. Meine Herangehensweise ist das nicht. Man muss sich mit den Quellen beschäftigen und sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen auseinandersetzen.
Das haben wir eigentlich nicht vor. Natürlich sind wir sehr gespannt zu hören, was sie in all den Jahren im Gefängnis durchmachen musste. Vielleicht treffen wir sie ja mal auf irgendeiner Veranstaltung.
Anzeige
Das klingt etwas vage.
Wir müssen erst mal sehen, welche Positionen sie heute vertritt. Die RAF hatte ja teilweise andere politische Vorstellungen als wir. Aber wie sich jemand entwickelt, kann man nie voraussehen. Deshalb will ich nicht ausschließen, dass die Mohnhaupt irgendwann doch bei uns Mitglied wird.
Was ist denn der Unterschied zwischen der RAF und euch?
Die RAF wollte trotz der Schwäche der Bewegung revolutionär agieren. Aber kleine Gruppen können keine Revolution durchführen. Die muss von der Mehrheit der Arbeiterklasse gewollt werden. Wir glauben, dass die Organisationsform der RAF, ihr Konzept der
Stadtguerilla
, angesichts der politischen Verhältnisse scheitern musste. Mit Anschlägen auf einzelne Repräsentanten des kapitalistischen Systems lassen sich unserer Meinung nach die Massen nicht gewinnen.
Ihr würdet also keine Anschläge verüben?
Die Wahl der Mittel hängt jeweils von der konkreten Situation ab. Aber wir lehnen Gewalt auch nicht grundsätzlich ab. Es gibt gerechte und ungerechte Gewalt. Gewalt ist immer dann gerecht, wenn sie dem gesellschaftlichen Fortschritt dient.
Dafür würdet ihr auch Menschenleben aufs Spiel setzen?
Anzeige
Es ist klar, dass die herrschende Klasse ihre Macht nicht freiwillig abgeben wird. Deshalb müssen wir sie mit Gewalt dazu zwingen. Insofern stehen wir hinter der Aussage von Karl Marx, dass die Gewalt die Geburtshelferin jeder Revolution ist. Es geht uns aber nicht darum, die Bourgeoisie, die Ausbeuterklasse, physisch zu vernichten. Wir wollen ihre ökonomischen Grundlagen beseitigen.