Erst Jahre später sollte ich das Lob des Müßiggangs begreifen. Meine grauen Zellen waren in der Zwischenzeit weiter gereift: Ich hatte das Literaturstudium abgeschlossen, war nach Deutschland gezogen und hatte gerade ein Studium der Europäischen Wissenschaften kurz vor dem Ende abgebrochen.
Ich war desillusioniert von einem Europa, das seinen Reichtum seinen ehemaligen Kolonien verdankt, das aber nicht zugestehen kann. Mein dickes Geschichtsbuch widmete der Sache gerade mal zwei Seiten. Folglich konnte ich mir nicht mehr vorstellen, für das französische Außenministerium zu arbeiten, wie ich es ursprünglich vorhatte. Ich wollte nicht Teil der ausbeuterischen, verlogenen Maschine werden. Noch weniger wollte ich acht Stunden am Tag in irgendeinem Büro intellektuell verdorren. Ich wollte faulenzen, diesmal aus Prinzip, obwohl ich es mir eigentlich nicht leisten konnte.
Meine Eltern machte das nervös. Sie hatten mein Studium finanziert und damit gerechnet, dass ich demnächst die französische Botschaft in Berlin leiten würde. Für meine neue Lebensplanung hatten sie wenig Verständnis.
Zu jener Zeit erschien in einem deutschen Verlag zufällig eine Neuauflage von
Lob des Müßiggangs
. Ich kaufte das Buch und verschlang es diesmal in einem Stück. Es war, als hätte Russel meine Lebenseinstellung gekannt und aufgeschrieben. Er gab mir viel mehr als nur Argumente, mit denen ich meine Eltern von meiner geistigen Gesundheit überzeugen konnte. Er rechtfertigte mein von meiner Umgebung als asozial empfundenes Dasein und gab mir so mein reines Gewissen zurück.
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Ein Satz fasst dieses Meisterwerk der modernen Aufklärung zusammen: "Die Moral der Arbeit ist eine Sklavenmoral, und in der neuzeitlichen Welt bedarf es keiner Sklaverei mehr." Diesen Satz verfasste Russell 1957 und er hat meiner Ansicht nach bis heute nichts an Wahrheit eingebüsst. Ich wollte ihn mir gleich auf die Stirn tätowieren lassen. Denn ich sah und sehe noch heute Menschen um mich herum, die sich zu Tode schuften und dabei kaum noch über den Sinn ihrer Beschäftigung nachdenken. Oder Menschen, die zu wenig oder gar nicht arbeiten und deshalb von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt werden.
Zu letzteren gehörte und gehöre ich heute in gewisser Weise immer noch. Nach der Lektüre wurde mir aber klar: Nicht wegen meines ausgeprägten Bedürfnisses nach Schlaf, guten Büchern und Sausen habe ich noch keinen beruflichen Durchbruch erlebt – sondern wegen der hemmenden Notwendigkeit, mit dem was mir Spaß macht, auch Geld verdienen zu müssen.
"Wenn auf Erden niemand mehr gezwungen wäre, mehr als vier Stunden täglich zu arbeiten, würde jeder Wissbegierige seinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen können und jeder Maler könnte malen, ohne dabei zu verhungern." Das klingt utopisch. Aber ich arbeite dran. Moul lebt schon auf die Weise: Mit Videomontagen verdient er ganz gut, ohne jeden Tag zur Arbeit gehen zu müssen. In seiner Freizeit zeichnet er. Bisher hat er kaum Bilder verkauft. Aber das ist ihm egal.