Berlinale
"Warum liebt sie ihn?"
Im Juli 2002 quälen und demütigen drei Jugendliche den 16-jährigen
Marinus Schöberl stundenlang und töten ihn dann mit einem gezielten
Sprung auf den Kopf. Obwohl es Zeugen gibt, wird der Fall erst Monate
später aufgeklärt. Für seinen Film "Der Kick" sprach der
Dokumentarfilmer Andres Veiel mit den Tätern und anderen Menschen aus dem
Dorf. Dabei wird klar: Weder sind die Täter grausame Monster, noch
Opfer einer schrecklichen Kindheit. Im Zuender-Interview spricht Veiel von einem "Ursachengestrüpp"
Fragen von Carolin Ströbele
Herr Veiel, mit welchem Gefühl sind Sie das erste Mal nach Potzlow, den Ort des Verbrechens, gefahren?
Mit einer Art Generalverdacht dem Dorf gegenüber. Ich hatte erfahren, dass in der Mordnacht drei erwachsene Zeugen anwesend waren und nicht eingeschritten sind. Ich hatte das Gefühl, es geht nicht nur um die Tat allein, sondern es gibt da eine Form des Mitwissens, Verschweigens, eine Grauzone der stillen Duldung. Genährt wurde dieser Verdacht durch meine erste Begegnung mit dem Dorfpfarrer, der sagte: Bleiben Sie in Berlin, wir wollen Sie hier nicht, wir haben genug Schlechtes mit den Medien erlebt.
Wie haben Sie die Menschen dazu gebracht, doch mit Ihnen zu reden?
Ich habe schließlich festgestellt, dass auf diesem Dorf so ein
Mediendruck lastete, dass die Bewohner gar nicht anders konnten als zu
sagen: Wir reden nicht mehr. Da kamen Journalisten für einen Tag,
gingen in den Dorfkrug, stellen vielleicht provozierende Fragen bekamen nicht die Antworten, die sie erwarteten und schrieben dann: Hier
gibt es keine Bereitschaft, sich mit dem Geschehenen
auseinanderzusetzen. Aber durch die Länge unserer Recherche und die
Möglichkeit, immer wieder zu kommen, und das Gehörte nicht gleich
verwerten zu müssen, haben wir schließlich das Vertrauen aufgebaut. Die
ersten Male durften wir noch nicht einmal mitschreiben. Irgendwann
durften wir dann Notizen machen und beim dritten, vierten oder
fünften Mal auch ein Tonband aufstellen.
Mit wem ist es Ihnen am schwersten gefallen, zu sprechen?
Mit den Tätern. Vor allem mit dem älteren Bruder Marco, der zwar nicht
derjenige war, der Marinus den tödlichen Kick versetzt hat aber der die
Situation vorbereitet hat, so dass es überhaupt zur Eskalation kommen
konnte. Ich habe mir vorher überlegt: Wie trete ich dem gegenüber, gebe
ich dem die Hand? Wie hockt der da? Sitzt er da mit seiner Glatze, mit
seinem stierenden Blick, wie er in der Presse beschrieben worden ist?
Weiß man nicht, ob er schon überlegt, wann und wie er zuschlägt? Die
Überraschung für mich war dann, jemand ganz anderen vorzufinden
nämlich ein Häufchen Elend. Er hatte damals Angst, dass er
Sicherheitsverwahrung bekommt und vielleicht gar nicht mehr aus dem
Gefängnis herauskommt. In dem Moment konnte ich nicht verhindern, dass
ich mit ihm mitgefühlt habe. Und das hat mich irritiert: Auf der einen
Seite gibt es diese Monströsität der Tat und auf der anderen Seite
Empathie, vielleicht sogar in manchen Momenten Sympathie - wie geht das
zusammen?
Wenn man den Schilderungen von Marcos Freundin glaubt, war er zu ihr ausgesprochen zärtlich.
Das ist genau der Punkt, den ich interessant fand. Dass man permanent auf doppeltem Boden marschiert. Und sich fragt: Warum liebt diese Freundin ihn? Und dass man sich natürlich auch wünscht, dass diese Liebe klappt, dass sie zusammenbleiben. Wie in jedem Liebesfilm, so banal das auch klingt.
Wie war die Begegnung mit dem jüngeren Bruder Marcel? Er erscheint eher als Mitläufer, der Angst hat vor seinem gewalttätigen, rechtsradikalen älteren Bruder.
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