Er hatte ein jungenhaftes Lächeln, was ich sehr entwaffnend fand - manchmal aber auch eine vollkommene Starre. Vor unserem Gespräch hatte er die Bedingung gestellt, nicht über die Tat zu reden. Nach zwei, drei Gesprächsrunden habe ich diese Verabredung gebrochen und ihn noch mal komplett durch die gesamte Nacht der Tat gehen lassen. Er war danach erleichtert und zwar nicht deshalb, weil er darüber gesprochen hatte, sondern weil wir sitzen geblieben sind. Er hatte wohl die Befürchtung, dass wir, nachdem er diesen ganzen Horror noch mal geschildert hat, sagen: Wir danken dir, das ist das Ende des Gesprächs.
Marcel erzählt, wie er mit seinen Springerstiefeln auf den Kopf des Opfers gesprungen ist. Wie haben Sie sich da gefühlt?
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Ich war in dem Moment unglaublich ruhig und distanziert. Erst viel später am Abend habe ich weiche Knie bekommen.
Gab es bei Ihnen denn nie den Punkt, an dem Sie einfach die blanke, dumpfe Wut gepackt hat über diese Tat und die Täter?
Ja, das war ganz am Anfang. Komischerweise nicht während der Gespräche, sondern als ich mit meiner Co-Autorin Gesine Schmidt den Tatort besichtigt habe. Als wir in den Schweinstall hineingegangen sind und ich an dem Futtertrog entlang gegangen bin, an dem Marinus zu Tode geprügelt wurde, hatte ich plötzlich das Gefühl, ich sehe das Blut. Vor Ort ging es sogar noch, aber dann haben mich diese Bilder nachts eingeholt. Da habe ich mir gesagt: Vorsicht, Andres. Ich hatte einen Punkt erreicht, den ich bei keinem meiner Projekte bisher gekannt habe.
Haben Sie deshalb diese theatrale Form der Darstellung gewählt?
Man hätte natürlich auch einen Spielfilm machen können, in dem man chronologisch den Ablauf der Gewalt in dieser Nacht darstellt bis zum tödlichen Sprung auf den Kopf. Ich wusste von Anfang an: Ich will kein Bild! Ich will keine Illustrierung der Gewalt haben, ich brauche die Distanz der Inszenierung. Die Bilder entstehen dann hoffentlich im Kopf des Zuschauers. Das hat vor allem mir selbst geholfen. Auf diese Weise konnte ich es für mich so abtrennen, dass ich stärker in das Ursachengestrüpp eindringe und nicht bei der Gewalt der Tat stehen bleibe.
Der Film hat als Bühne eine leere Halle, in der ein Kasten steht, in dem die Angeklagten auftreten. Warum dieser Kasten?
Es ist ein Projektionskasten. Wie damals beim Eichmann-Prozess: Das
Monster, das man in den Glaskasten sperrt, das nicht mehr zu uns
gehört, wie ein wildes Tier, das man angafft. Aber man ist geschützt.
Was ich interessant fand, war, den Täter Marcel ab und zu herauszuholen
und zwar dann, wenn er private Dinge erzählt. Man gibt also die
Schutz- und Trennwand auf. Ich selbst habe ihn ja auch gerne mal in
diesen Monsterkäfig gesteckt, weil ich die Tat unerträglich fand.
Gleichzeitig wollte ich diesen Käfig aber auch aufbrechen und mehr
zeigen: Die Unerträglichkeit zu akzeptieren, dass diese Tat aus einer
Normalität heraus entstanden ist. Von einem Menschen, der eine
Biografie hat, die gar nicht so unglücklich ist. Sein erster Satz ist
ja: Ich hatte eine glückliche Kindheit.