Die meisten Menschen denken der Alltag wäre das normale Leben und ein Urlaub nur die Ausnahme davon. Doch wie können sie wissen, welches das echte Leben ist?
Die Kolumne von Selim Oezdogan
Manchmal kommt man aus dem eigenen Alltag ganz heraus, sei es, dass man in den Urlaub fährt, sei es, dass man in einem Krankenhaus liegt, bei einer Kur, einem mehrtägigen Seminar oder in einem Gefängnis ist.
Wenn man dann zurückkommt in sein normales Leben, ist man ganz verwundert, wie wenig Zeit darin offensichtlich vergangen ist. Und wie gut die Dinge ohne einen funktioniert haben.
Bei manchen reicht schon eine Woche irgendwo, wo man mit anderen Scheinen und Münzen bezahlen muss und sie haben den Eindruck diese Euros seien Falschgeld. Nach längerer Zeit stellt sich diese Empfindung bei jedem ein. Obwohl man doch jahrelang genau mit diesem Geld hantiert hat.
Vielleicht erscheint einem das wichtig und richtig, was man nur lange genug tut. Man spielt eine Rolle immer wieder und wieder, bis sie einem vorkommt wie das eigene Leben. Und wenn man dann auf einmal ein anderes Leben hat, spielt man halt eine andere Rolle. Bei der anderen Rolle merkt man oft, dass sie nicht das wahre Leben ist. Aber vielleicht ist das ja nur so, weil man sie nicht lange genug spielt.
Es gibt in Atemlos eine Szene in der Valerie Kaprisky zu Richard Gere sagt, ihre Affäre sei eine Urlaubsgeschichte in Mexiko gewesen, aber das hier sei das richtige Leben. Und Richard Gere entgegnet: Nein, Mexiko sei das richtige Leben, das hier würde nicht zählen. Wie will man herauskriegen, wer von beiden Recht hat?
Natürlich können die wenigsten von uns ein Leben im Urlaub verbringen, aber offensichtlich bestimmt fast ausschließlich die Länge der Erfahrung wie sehr wir bereit sind, sie als das richtige Leben anzusehen.
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Vielleicht gibt es einfach nicht das richtige Leben, sondern nur das an das man sich ausreichend gewöhnt hat. Und das hält man dann für wichtig. Unter anderen Umständen würde man etwas völlig anderes für wichtig halten.
So wie ich jahrelang getrunken habe und mich Menschen, die in einer Kneipe alkoholfreie Getränke bestellten, befremdet haben. Was wollten die eigentlich hier? Und ich mochte es gegen Abstinenzler zu wettern und Pauschalurteile über sie und ihren Stock im Arsch abzugeben, über ihr spaßfreies, risikoarmes, langweiliges Leben.
Trinken erschien mir wichtig, es schien eine Haltung zu sein und wahrscheinlich war es das auch.
Heute habe ich schon so lange nicht mehr getrunken, dass es mich manchmal befremdet, wenn Menschen, mit denen ich ein Gespräch führe, nebenbei vier, fünf, sechs Bier trinken.
Aber zumindest bin ich mit meinen Urteilen vorsichtiger geworden. Es ist wohl bei allem so, man gewöhnt sich an die Dinge, die man regelmäßig tut und bastelt sich dann erst einen theoretischen Unterbau, der plausibel zu erklären scheint, warum man diese Sachen macht.
Man gewöhnt sich daran, seine Möglichkeiten und die Welt begrenzt zu sehen.