Schriftsteller sind selten so, wie man es nach dem Lesen ihrer Werke erwarten würde.
Die Kolumne von Selim Özdogan
Es gibt eine Liveaufnahme von einer Lesung des Dichters Dylan Thomas, auf der er als Einleitung einen Text liest, den ich mir im Laufe der letzten zwanzig Jahre sicherlich 200 mal angehört habe.
Zum einen mag ich seinen walisischen Akzent, zum anderen ist der Text persönlich, direkt, lustig und ungewöhnlich melodisch. Außerdem kann man Thomas' Angst heraushören, die Angst vor dem Publikum, dessen Aufmerksamkeit er haben möchte.
Er spricht über Dichter, Gedichte, sich selbst und sein Verständnis von Literatur.
Ich kenne diese ca. 20 Minuten nicht auswendig, aber Bruchstücke begleiten mich schon durch mein ganzes Leben als Schreiber. Es gibt immer wieder Situationen, in denen mir Sätze oder fast ganze Passagen einfallen.
Über einen kleinen Umweg habe ich gehört von dieser Frau, die zwei meiner Lesungen besucht und wohl auch einige Wort mit mir gewechselt hat. Nur um hinterher meine Bücher aus dem Regal zu verbannen, weil sie feststellen mußte, daß ich arrogant bin und so einfühlsam wie ein Hufschmied, der Zähne zieht. Doch sie hat sich wohl gewundert, wie so jemand in der Lage sein kann, solche Bücher zu schreiben.
Als ich das erfuhr, fiel mir direkt wieder Dylan Thomas ein, der in besagter Einleitung meint: Es ist nicht ungewöhnlich für Leute, die einen mehr oder weniger lebenden Dichter gesehen haben, sich mit kaum verhohlenem Staunen zu fragen: Wie konnte er nur diese Werke erschaffen?
Mich wundert, daß sich gewisse Wahrheiten nicht herumsprechen und so eine Art Berufsgeheimnis zu sein scheinen. Es ist ein gängiger Fehler, von dem sichtbaren Teil der Persönlichkeit auf den unsichtbaren zu schließen. Welcher Teil hier nun welcher sein soll, sei dahingestellt.
Ich verstehe mich gut mit einigen Autoren, deren Bücher ich aus verschiedenen Gründen nicht lesen kann oder mag. Und es gibt Autoren, bei denen ich mehr als nur ahne, daß sie unangenehme Zeitgenossen sind oder waren, deren Bücher mich aber begeistern. Hunter S. Thompson wird immer einen Platz in meinem begrenzten Buchregal haben, unabhängig davon, daß er seine Frau geschlagen hat.
Es gibt ein Gedicht von Julia Vinograd, in dem sie erzählt wie sie sich im Buchladen die dünnen Gedichtbände ansieht und dann die dicken Biografien. Sie sagt, in den Gedichtbänden steht das Beste, was der Schreiber gemacht hat und in den Biografien das Schlechteste: wie er seine Geliebte betrogen hat, seine Familie ruiniert, der Trunksucht verfallen ist, seine Schulden nicht gezahlt hat.
Einige der Arbeiten des Schreibers resultieren aus seinem Leben, gibt sie zu, aber die meisten hat er geschaffen, trotz seines Lebens, trotz der Umstände, trotz der Probleme. Trotz allem. Sogar trotz der Buchläden.
Ich stimme mit ihr nicht vollkommen überein, aber ich wundere mich, daß dieser Gedanke so wenig verbreitet ist.