Mit Religion hatte ich nie was am Hut. Nach Salingers Buch weiß ich: Glauben ist ganz leicht und ungeheuerlich.
Von David Hugendick
Das Paket kam früh am Morgen. Umwickelt war es mit Zeitungspapier, leicht ausgebeult und zerfleddert. Vorne, beiläufig mit Kugelschreiber, stand kaum lesbar meine Adresse. Ein Wunder, dass es überhaupt angekommen ist. Der Absender war meine Freundin. Sie hatte es angekündigt, lange bevor ich zu meinen Eltern gefahren war und mich dort eine Grippe niederstreckte. Ein Buch wolle sie mir schicken. Das schönste, das sie je gelesen habe.
Normalerweise hörte ich nicht auf so was. Wenn mir Freunde von einem Buch vorschwärmten, wurde ich zunächst argwöhnisch. Liehen sie mir es schließlich, war ich des tagelangen Überschwangs meiner Freunde oft so müde, dass ich es nicht las und es ihnen nach einer angemessenen Zeit mit einem „ganz okay“ zurückgab – hoffend, hernach mit keinem tieferen Gespräch zum Inhalt behelligt zu werden. Aber hier ging es um meine Freundin.
Zwischen einem Meer von Taschentüchern lag das schmale Bändchen vor mir. Grün umrahmt sein Titel.
Franny und Zooey
. Den Autor, J.D. Salinger, kannte ich aus dem Englischunterricht. Das Phantom der amerikanischen Literatur. Der, der sich aus der Öffentlichkeit zurückzog und mit niemandem mehr sprach. Keiner wusste, warum. Die Öffentlichkeit tauschte sich über diese Frage lebhaft aus, schließlich wurde Salinger sogar der CIA verdächtig. Sie ließen ihn jahrelang beschatten, heißt es. Warum bloß? Den
Fänger im Roggen
schrieb er, den Prototyp aller Jugendromane. Das habe ich damals sehr gemocht.
Franny und Zooey
erzählt zwei Geschichten. Die erste von Franny Glass, einer Studentin, bildhübsch und aberwitzig klug wie ihre älteren sechs Geschwister. Jeder von ihnen war als Kind Kandidat in einem Radioquiz, Kinderstars in New York. Franny besucht ihren Freund Lane, sie gehen essen, sie streiten, sie bricht murmelnd auf dem Klo zusammen - in ihrer Hand, ein kleines Buch. Das war’s. Salinger blendet um zu Zooey, Frannys Bruder. Er sitzt in der Badewanne und beschimpft seine Mutter, die sich um ihre jüngste Tochter sorgt und ihren Sohn anfleht, mit ihr zu sprechen. Seit Tagen liegt Franny auf der Couch, isst nichts und murmelt und murmelt. Immer den gleichen Satz: „Jesus, erbarme dich meiner."
Ich wurde stutzig. Ich bin nicht getauft. In meiner Jugend schien es, als rächten sich höhere Mächte dafür mit all ihrer Niedertracht. An einer Kirchenbank schlug ich mir zwei Zähne aus; mein Religionslehrer plagte mich in vorderster Reihe mit schlechtem Atem und hartem Husten. Und meine große Schwester zerbrach in christlichem Furor meine Heavy-Metal-Schallplattensammlung in tausend Stücke. Danach war klar: Die Religion und ich, wir sind keine Freunde. Es sei denn, sie zauberte mir meine limitierten
Megadeth
-Picturediscs wieder herbei. Und nun so was!
Was hatte sich meine Freundin dabei gedacht? Sie geht in die Kirche, sie „glaubt“, darüber sprachen wir oft.
Franny und Zooey
ist, ja, ein religiöses Buch. Jedoch nicht bekehrend oder salbungsvoll, das bemerkte ich bald. Es führt uns Franny vor, die sich klammert an Heilsversprechen, an die Erlösung, von der ihr das Buch erzählt, das sie unentwegt bei sich trägt. Es sind die Memoiren eines Pilgers, der versucht, ohne Unterlass zu beten. Sie ist weinerlich und nahezu unerträglich gläubig. Dagegen Zooey. Aufsässig Zigarre rauchend, von zynischem Witz. Ein Menschenfeind, dem es letztlich gelingt, seiner kleinen Schwester ihren Gotteswahn auszureden. Dank seiner universalen Bildung durchstreift er dabei Hinduismus und Judentum, Buddhismus und Christentum.
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Allmählich verstand ich, warum meine Freundin dieses Buch so wichtig fand. Es sind einerseits Zooeys Gedanken: Dass man keine Religion braucht, um an irgendetwas Höheres zu glauben, um die Ahnung zu haben von etwas Ungeheurem. Andererseits sein entwaffnender, absurder Humor: Jesus würde heute nur von Käsebroten und Coca-Cola leben. Und wenn er versuche, an etwas Schönes zu denken, fielen ihm Garagen ein. Garagen im Herbst. So altklug Zooey auch zuweilen wirken mag, man möchte ihm einfach alles glauben. Meine Freundin hatte es geschafft: mein Verhältnis zum Glauben veränderte sich;
Franny und Zooey
war auch mein Lieblingsbuch geworden. Auch seltsam, mit der Freundin so etwas zu teilen. Was wäre das Nächste? Freizeitanzüge im Partnerlook? Dazu kam es aber nicht mehr. Wir trennten uns, noch bevor ich das Buch ein siebtes Mal gelesen hatte.
Inzwischen habe ich aufgehört nachzuzählen. Ich empfehle es jedem, verschenke es. Vielleicht lesen es die meisten sogar auch. Ein „ganz okay“ habe ich jedenfalls noch nicht gehört.