"Das Bildnis des Dorian Gray" auf einer Party zu lesen, ist nicht sehr schlau. Aber ich habe meine Strafe bekommen
Der Quelltext von Sarah Benecke
Ich saß auf dem Sofa, es war vier Uhr morgens am ersten Tag des Jahres 2006. Während drei Freunde direkt neben mir Skat spielten und schon beim Kümmelschnaps angekommen waren, las ich. Ich war so versunken in die Geschichte, dass ich nicht einmal merkte, wie mein damaliger Freund sich zum ersten Mal in seinem Leben richtig betrank. Oscar Wilde war es also, dem ich die Ereignisse des kommenden Tages zu verdanken hatte.
Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray faszinierte mich. Es ist die Geschichte eines bildschönen jungen Mannes, der ein Portrait von sich malen lässt. Fortan altert das Bildnis an seiner statt, während Grays Äußeres unverändert jung und makellos schön bleibt. Schon vorher hatte sein Freund Lord Watton, ein Dandy par exellence, Gray vor den Tücken des Alters gewarnt: "Sie werden gelb und hohlwangig werden und trübe blicken. Sie werden entsetzlich leiden! Nutzen Sie Ihre Jugend, solange Sie sie haben! [...] Ein neuer Hedonismus – das ist es, was unser Jahrhundert braucht."
Daraufhin gibt sich Dorian Gray der Genusssucht hin – teuren Dingen, schönen Frauen, ausschweifenden Partys. Ein unbeschwertes Leben, sollte man meinen, würde sich nicht nach und nach sein Charakter wandeln und er immer realitätsferner und grausamer werden. Was hier beschrieben wird, ist die Selbstzerstörung eines dekadenten Menschen. Gleichzeitig ist der Roman eine harsche Kritik an der moralischen Verantwortungslosigkeit der englischen Oberschicht im 18. Jahrhundert.
Wilde kritisierte in Dorian Gray sein eigenes Leben. Er selbst gehörte der Oberschicht an und war Zeit seines Lebens ein genusssüchtiger Dandy. Zudem war er schwul, was ihn zu einem ständigen Versteckspiel zwang. Als seine sexuelle Neigung trotzdem öffentlich wurde, steckte man ihn für zwei Jahre ins Gefängnis. Ein Aufenthalt, von dem er sich nie ganz erholte, und an dessen Folgen er später starb. So war nicht nur seine Figur Dorian Gray, sondern letztlich auch er selbst eine tragische Gestalt.
Ironie und Gesellschaftskritik machen das Suchtpotential dieser Novelle aus und brachten mich dazu, am Neujahrsmorgen bis fünf Uhr auf dem Sofa zu lesen. Und viel nachzudenken. Denn einerseits: Wäre es nicht einfach, wenn das Leben eine einzige, unbeschwerte Party wäre? Wenn ich nie abwaschen, staubsaugen oder arbeiten gehen müsste? Eine ewige Silvesterparty sozusagen. Doch andererseits: Was hätte ich dann erreicht? Nichts. Und werden Ereignisse nicht erst dadurch schön, dass man sie sich erarbeitet hat? Kann man etwas nicht ausschließlich dann genießen, wenn es nicht alltäglich ist?
Ein Neujahrsfest wäre auch nichts Besonderes, würden wir jeden Tag Raketen und Böller anzünden und um Mitternacht mit Sekt anstoßen. Es wäre unfassbar langweilig. Als ich bei dieser Erkenntnis ankam, war es schon halb fünf Uhr morgens. Durch das Fenster des kleinen Häuschens konnte ich das letzte, klägliche Glitzern der Feuerwerke sehen, von den besoffenen Gelegenheits-Hedonisten am Strand abgefeuert.
Die drei Männer neben mir waren bereits von der Couch auf den Boden gerutscht, wo nun auch die fast leere Schnapsflasche stand. Das interessierte mich nicht. Dorian Gray war gerade zu der Einsicht gelangt, was für ein schrecklicher Mensch er gewesen war. Er verfluchte das Bild, das ihm ewige Jugend gegeben und all seine Sünden abgebildet hatte, um ihn unbefleckt zu lassen. "Sein ganzes Versagen ging darauf zurück. Es wäre besser für ihn gewesen, wenn jede Sünde ihre sichere, schnelle Buße nach sich gezogen hätte. [...] Die Jugend hatte ihn verdorben."
Als ich dem betrunkenen Haufen um den Couchtisch schließlich Gute Nacht sagte, hatte Dorian Gray sich bereits umgebracht. Mit dem Messer, mit dem er zuvor seinen Portraitisten ermordet hatte, durchbohrte er sein Bildnis, das daraufhin wieder in jugendlichem Glanz erstrahlte. Auf dem Boden jedoch lag ein welker, runzeliger alter Mann mit einem Messer im Herzen.
Noch etwas duselig, weniger vom Sekt als von der Geschichte, ging ich zu dem kleinen Schuppen, in dem mein Freund und ich untergebracht waren. Kurz darauf tauchte auch er auf, ließ sich auf das Klappsofa fallen und deklarierte, ihm sei im Leben noch nie so schlecht gewesen. "Klasse", dachte ich. "Das wird bestimmt eine erholsame Nacht." Fünf Minuten später wankte er noch einmal aus der Tür und ließ eiskalte Winterluft in unseren ohnehin ungeheizten Verschlag. Das wäre noch auszuhalten gewesen. Sein erkältungsbedingtes, lautstarkes Schnarchen nicht mehr. Ich schnappte mir die Schlüssel zum Haus, zog meinen Mantel über die Schultern und tappte entschlossen durch den Schnee. Die Couch im Wohnzimmer würde mir reichen.
"Wie war das doch gleich mit der schnellen, sicheren Buße?" dachte ich noch kurz vor dem Einschlafen. Plötzlich hörte ich ein Geräusch, mein Freund lag neben mir und fragte mich mit zugekniffenen Augen, wieso ich umgezogen sei. Ich gab auf. Manchmal muss man sich in sein Schicksal fügen.
Wahrscheinlich wird das später eine der Geschichten, die ich aus meiner Jugend erzähle. Geschichten aus der Jugend kann aber nur erzählen, wer auch altert. Auf ewig jung zu bleiben, wie es dem tragischen Helden Dorian Gray geschehen ist, das würde ich nicht wollen. Jedes Jahr die gleichen Feiern und Exzesse, Gesprächsthemen und Freunde. Wäre das Leben nicht entsetzlich langweilig mit der Gewissheit, dass man sich nicht verändern wird? Dass man im Spiegel nie etwas Neues entdecken kann? Auch wenn ich mich mit vierzig über meine Falten ärgere – ich möchte doch wissen wie es ist, sie zu haben.