In den Neunzigern half manchmal nur die Flucht nach vorn. Am besten nach San Francisco, in die Stadtgeschichten von Armistead Maupin.
Von Eva-Maria Simon
„Ich werde hierbleiben“, sagte Mary Ann am Telefon zu ihrer Mutter. Hier, das hieß in San Francisco, wo schon so viele gelandet waren und einfach nicht mehr wegkonnten, weil die Stadt sie nicht losließ. Wenn Mary Ann jemanden fragte, ob er aus „Frisco“ komme, bekam sie immer dieselbe Antwort: Niemand ist von hier.
Ich war auch nicht von dort, aber nach den ersten fünf Seiten wollte ich es sein, unbedingt. Wie eine Süchtige folgte ich der Protagonistin Mary Ann in die
Stadtgeschichten
– jene sechs Bände mit Kurzgeschichten, die Armistead Maupin in den achtziger Jahren für den
San Francisco Chronicle
geschrieben hat.
Mit Mary Ann begab ich mich auf Wohnungssuche und zog mit ihr in die Barbary Lane 28 ein. Begrüßt wurden wir von Mrs. Madrigal - ein Name wie ein Lied, eine Frau wie ein Geschenk. Eine Dame mittleren Alters, die jeden neuen Mieter mit einem Joint begrüßte. Das Gras baute sie im eigenen Garten an, ihre Mieter nannte sie „Kinder“ und in ihrem Haus trafen sich Menschen, die sich durch die siebziger und achtziger Jahre strampelten, während sich ihre Erlebnisse immer wieder miteinander verflochten – dabei hätte jeder einzelne von ihnen ein ganzes Buch füllen können.
Unmöglich, mit dem Lesen aufzuhören, den Sog des „nur noch eine Geschichte“ zu unterbrechen, nur weil es zufällig schon halb drei war und man als 13-Jährige ja nach herrschender Meinung immer soundso viele Stunden Schlaf brauchte. Aufhören ging nicht – ich musste weiter lesen, musste alles erfahren über jene Stadt, die für mich zuvor nur ein Symbol gewesen war. Ein Symbol für eine fremde Welt, in der sich einst Blumenmenschen trafen, sangen und Plakate malten.
Ein Symbol für die sechziger Jahre eben, die sonst immer als ununterbrochene Schwarzweißdokumentation über die Fernsehbildschirme schweiften. 30 Jahre Woodstock, 30 Jahre 2. Juni, 30 Jahre Hair - irgendeinen Anlass gab es immer um uns, der Generation X, Y, Z oder wie auch immer, klarzumachen, wie wir doch versagen, wie unpolitisch, unrebellisch, unlegendär wir sind. Zum Beweis wurde meistens die Love Parade gezeigt mit dem Hinweis, dass die heutige Jugend eben lieber feiere statt demonstriere. So dichteten findige Kommentatoren einer ganzen Generation einen Minderwertigkeitskomplex an, ohne dass sie irgendein Hippie, geschweige denn unsere Eltern, darum gebeten hätten. Auf dieses Fernsehgeschwätz hatte ich – ganz Lost Generation – null Bock.
Doch zum Glück gab es Armistead Maupin, der aus der mentalen Schwarzweißdoku einen Farbfilm machte und die Geschichte von San Francisco weiter erzählte, ganz ohne Nostalgie, dafür aber mit viel Humor und Ironie.
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Seite um Seite lernte ich seine Figuren kennen, während ich Mary Ann auf dem Weg in ihre neue Welt begleitete. Eigentlich mochte ich sie ja nicht. Denn sie war eine Spießerin, eine, die zu den Cable Cars Straßenbahn sagte und dachte, Coke wäre eine braune Brause. Wenn sie zwanzig Jahre später gelebt hätte, hätte sie wahrscheinlich
Buffalos
getragen und die Namen von Boyband-Boys auswendig gekannt. Solchen Leuten war ich natürlich haushoch überlegen.