Ich bin ein nettes Mädchen aus gutem Hause. Seit T.C. Boyle weiß ich, dass mich das nicht davor schützt, zum fremdenfeindlichen Paranoiker zu werden.
Von Christiane Opitz
Neulich im Supermarkt Hamburg-St.Georg. Auf der konzentrierten Suche nach irgendetwas, pralle ich mit meinem Einkaufswagen in einen jungen, dunkelhäutigen Mann. "I´m sorry", murmele ich, ohne groß nachzudenken – aber auch in der Annahme, dass er ein deutsches "Entschuldigung" nicht verstehen würde. "Nichts für ungut, junge Frau," entgegnet der Angerempelte in lupenreinem Hochdeutsch. Ich bin verblüfft. Er ist Hamburger, genau wie ich, durchzuckt es mich. Ja klar, warum auch nicht? Peinlich berührt biege ich mit meinem Wagen eilig in den nächsten Gang und verstecke mich hinter dem Gemüse.
Später im Rückblick dann der Ärger über mich selbst. Da hält man sich für offen und tolerant und dann ertappt man sich im Alltag wieder bei solch blöden Vorurteilen. Dabei müsste ich es doch eigentlich besser wissen: eine bildungsbürgerliche Erziehung genossen, ein geisteswissenschaftliches Studium an einer eher linken Uni absolviert, schwule Freunde – nützt alles nichts, dennoch schleichen sich diese politischen Unkorrektheiten ein, die einen daran zweifeln lassen, wie tolerant man denn nun wirklich ist. In der Theorie sind wir natürlich alle frei von Vorurteilen. In der Praxis hapert es. Musste ich ernüchtert feststellen.
Auch T.C. Boyles Roman
América
beginnt mit einem großen Knall. Der liberale Saubermann Delaney Moosbacher fährt mit seinem frisch gewachsten japanischen Wagen einen Mann über den Haufen. Den illegalen Mexikaner Cándido. Da es Delaneys gute humanistische Erziehung verbietet weiterzufahren, steigt er aus und sucht im abschüssigen, dicht bewachsenen Hang des Canyons nach dem Verletzten. Schließlich findet er den blutverschmierten Mann. Der versteht aber weder Englisch noch Französisch. Delaney drückt Cándido zwanzig Dollar in die Hand und fährt weiter.
Dieser Crash zu Beginn des Romans ist nur der erste große Zusammenprall. Viele sollen folgen. Fest steht: Das Leben der Männer ist von diesem Moment des Unfalls an auf schicksalhafte Weise miteinander verknüpft. Dabei könnten die Situationen der beiden kaum unterschiedlicher sein. Delaney lebt im aufgeräumten Vorort Arroyo Blanco, gemeinsam mit Sohn und Gattin. Diese ist eine erfolgreiche Immobilienmaklerin, während der naturverbundene Delaney Kolumnen über die Flora und Fauna des Canyons für eine Zeitschrift schreibt. Die Moosbachers sind gebildete Anglo-Amerikaner, stilvoll, tierlieb, ernährungsbewusst, liberal.
Das krasse Gegenteil verkörpern Cándido und seine schwangere Frau América. Sie hausen wie Tiere versteckt im Canyon, ernähren sich von den Resten, die die Wohlstandsgesellschaft wegschmeißt und führen ein Leben in Angst vor der Polizei, gewaltbereiten weißen Vorstadtkids und sogar ihren eigenen Landsleuten.
Was an Boyles Roman beeindruckt und verstört, ist die Wandlung des politisch korrekten Delaney, der sich auf einer Bürgerversammlung noch vehement gegen einen Schutz-Zaun rund um die Siedlung ausspricht, hin zu einem fremdenfeindlichen, aggressiven, zutiefst verängstigten Mann, der hinter jeder Häuserecke Unheil vermutet. Seine Wahrnehmung verengt sich im Verlauf des Romans zunehmend, hin zu einem klaren Feindbild: den Illegalen.
Es beginnt mit leisen Zweifeln, ob Cándido nicht absichtlich vor sein Auto gelaufen sei, um ihn um Schmerzensgeld zu erpressen. Dann findet er immer mehr Indizien für die barbarische Natur der Fremden, zum Beispiel, dass der Canyon seit ihrer Ankunft im Müll erstickt. Delaney, der mit Berichten über einheimische Tier- und Pflanzenarten sein Geld verdient, beobachtet diese Entwicklung mit Grausen. Seine Kolumnen werden wirrer und paranoider. Immer öfter ist die Rede von fremden Arten, die sich ausbreiten und die heimischen Rassen verdrängen. Einmal schreibt er: "Die Coyoten sind auf dem Vormarsch; sie sind gerissen, scharfsinnig, hungrig und nicht aufzuhalten."
Die Lage spitzt sich weiter zu, als tatsächlich ein Coyote in den Garten der Moosbachers eindringt und einen ihrer Hunde tötet. Das Maß ist voll. In Delaneys Kopf verschwimmen Coyote und Mexikaner zu einer tödlichen Bedrohung. Das Unzivilisierte bahnt sich unaufhaltsam seinen Weg in die amerikanische Kultur – und Delaney greift zum Colt.
Besonders schmerzhaft sind die unterschiedlichen Prioritäten der beiden Parteien, die Boyle gnadenlos in Kontrast zueinander setzt. Für die Mexikaner im Canyon geht es schlichtweg ums nackte Überleben, während Delaney jeden Morgen Kaffee mit fettarmer Milch trinkt (der Kalorien wegen) und regelmäßig joggen geht. Das Leben Américas und ihres Mannes ist für sich genommen schon schlimm, doch im direkten Vergleich zum Moosbacher´schen Way of Life wirkt es wie die Hölle auf Erden.
In
América
geht es um die Menschlichkeit und die Schwierigkeit, sie zu bewahren. Menschlich zu handeln ist leichter, wenn die Grundbedürfnisse gewährleistet sind. So lautet Boyles versteckte These. Dennoch sind es gerade die reichen Amerikaner, die sich den Mexikanern gegenüber unmenschlich zeigen. Das Aufeinanderprallen dieser beiden Existenzen öffnet Delaney nicht die Augen für politische und soziale Missstände oder führt ihn dazu sein Handeln zu hinterfragen. Es bewirkt genau das Gegenteil: Argwohn und Angst.
Ich habe mich nach der Lektüre des Buches gefragt, wie viel von Delaney Moosbacher in mir selbst steckt. Und wenn er da irgendwo lauert – wie ich verhindern kann, dass er Amok läuft. Wie viel Misstrauen und Vorurteile habe ich selbst gegenüber den
Anderen
? Ich bin gebildet und satt, ich lebe einer Demokratie. Ich habe die besten Voraussetzungen, um nicht zum fremdenfeindlichen Paranoiker zu werden. Um echte Anteilnahme, echtes Verständnis zu zeigen, keine antrainierte political correctness. Nach diesem Roman habe ich angefangen, mich selbst zu beobachten, mir vorzunehmen nächstes Mal anders zu reagieren. Ich will daran arbeiten, den inneren Zaun abzureißen. Oder zumindest eine große Pforte hineinzubauen.
Anzeige
Am Ende des Romans siegt übrigens doch noch die Menschlichkeit. Der eine rettet dem anderen das Leben, als beiden das Wasser buchstäblich bis zum Hals steht. Es ist Cándido, der Delaney vor dem Ertrinken rettet. Er tut instinktiv das, was der reiche Weiße aus Los Angeles eigentlich hätte tun sollen und wozu er die ganze Zeit über Gelegenheit gehabt hätte: dem anderen die Hand zu reichen.