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Quelltexte

Ich will brennen

Sie rauchte, sie trank, sie feierte und sie war eine der "klügsten Frauen des Jahrhunderts". Simone de Beauvoir führte mich aus einem Berliner Ghetto in das Frankreich der zwanziger Jahre, zeigte mir Marcel Proust und rettete mich vor Wolfgang Petri. Eine Liebeserklärung.

Eigentlich war es schon in meiner Vor-Pubertät bei vielen Dingen so, dass ich zwar wusste, was ich nicht wollte, aber nie so richtig, was ich wollte. Die Musik, die im Radio lief, war nicht mein Ding. Aber woher sollte ich wissen, wo es etwas Besseres gab? Keiner in meinem Umfeld, der es mir hätte verraten können. Der  Berliner Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin, ist bundesweit als Ghetto bekannt. Die Coolen hörten Gangsta-Rap. Wir Mädchen Whitney Houston.  

Bei der Auswahl der Bücher: das gleiche Dilemma. Mit Donald Duck fing alles an. Nicht mit Micky Mouse, dem alten Spießer. Dann kam die Enid Blyton-Phase, die irgendwann in die Stephen King-Ära überging. Ach ja, die Marion Zimmer-Bradley-Zeit nicht zu vergessen. Diese schlecht geschriebenen Fantasy-Schinken, in denen immer unglaublich viel Geschlechtsverkehr getrieben und beschrieben wird.

Dann verfranste es sich. Die Autoren kamen und gingen, irgendwelche. Es gab keine Inspiration. Das war unbefriedigend und öde. Und wieder der Gedanke: Ich muss irgendwas ändern. Wo ist die richtige Musik? Wo sind die richtigen Bücher?

Zwischenzeitlich hatte ich gelernt, wie man Fahrradschlösser mit den kleinen Schlüsseln auf den Fischkonserven öffnet, bei Karstadt Kleinkram klaut oder in einen Dachboden einbricht. Simone de Beauvoirs "Memoiren einer Tochter aus gutem Hause" hatten mich 50 Pfennig in der Bücherei gekostet. Dort gab es alte Bücher gegen eine kleine Spende. Es vergingen einige Jahre, bis ich es endlich aufschlug. Aber dann...

Sofort wollte ich wissen, was in diesem kleinen Mädchen vorgeht, das in einem Zimmer "mit weißen Möbeln" geboren wurde. Dieses Mädchen hatte Zornesanfälle, terrorisierte seine Familie mit seinen Macken und war offenbar sehr früh sehr reflektiert. Selbst wenn Simone de Beauvoir all diese Gedanken dem kleinen Kind, das sie war, nachträglich eingepflanzt hatte, wie Kritiker es ihr vorwarfen, interessierte es mich nicht. Ich liebte dieses ungezogene, rebellische Kind, ob es so existiert hat oder nicht.

Und das Mädchen las. "Die frisch gekauften Bücher knackten in meinen Händen und rochen gut." Ich begleitete sie durch ihre Pubertät, mit Pickeln und Gedichten von französischen Lyrikern, von denen ich nie gehört hatte. Sie stellte Fragen über das Erwachsenwerden, die auch in meinem Raum schwebten, die ich aber nie formulieren konnte: "Ich für meine Person war bislang jeden Abend reicher eingeschlafen, als ich am Vortag gewesen war; von Stufe zu Stufe erhob ich mich; wenn ich aber da oben nur eine triste Hochebene antraf, ohne ein Ziel, auf das man zustreben konnte, wozu dann das Ganze?" Freundschaft, das Leben, Liebe, der Tod, die Ewigkeit.

Ich fing an, anders zu denken, während ich sie las. Und bekam Herzklopfen von all den Namen, mit denen sie mich überforderte. Victor Hugo , André Gide , Paul Nizan , Marcel Proust .… hinter jedem Namen steckte ein ganzes neues Universum, das ich mir erlesen konnte. Endlich.

Sie wurde älter, unterhielt sich mit den jungen Männern, mit denen sie flirtete, über Bilder von Picasso. Sie streifte durch dunkle Straßen, besuchte Konzerte in düsteren Bars. Nichts in meinem Umfeld war auch nur annähernd so stilvoll, so klug oder cool. 

Die Jungs, die ich kannte, schauten Horrorfilme und lasen die Bildzeitung. In den Bars in meinem Viertel gab es Daddelautomaten und Musik von Wolfgang Petri. Ich wollte ins Buch kriechen und stattdessen mit all diesen Menschen in den Pariser Bars und Cafés sprechen.

Damals nahm ich mir vor, mein Leben damit zu verbringen, mit schlauen Menschen über Philosophie, Literatur, Politik und Kunst zu plaudern und dazu alkoholische Getränke zu bestellen. "…während sie Cocktails mit Curacao mixte, zeigte er mir Reproduktionen von Soutine und Cezanne." Ich musste so leben wie Simone de Beauvoir.

Sie war es auch, die mir sagte, warum: "Es besteht in mir ein immer schon vorhandenes monströses Verlangen nach Lärm, nach Kampf, nach Wildheit und vor allem nach Versinken (…) Ich will das Leben, das ganze Leben. Ich fühle mich voller Neugier, voll Gier glühender zu brennen als irgendeine andere, von welcher Flamme auch immer es sei."

Ich brannte, das Buch war fast ausgelesen, nur noch wenige Seiten. Auf denen lernte Simone de Beauvoir ihn kennen. Sie beide wurden zu einem der berühmtesten Paare der Welt. Jean Paul Sartre. "Sartre entsprach genau dem, was ich mir mit fünfzehn Jahren gewünscht und verheißen hatte; er war der Doppelgänger, in dem ich in einer Art von Verklärung alles wieder fand, von dem ich auch selbst besessen war. Mit ihm würde ich immer alles teilen können."

Als ich das Buch zuschlug, hatte ich einen relativ präzisen Plan davon, wie mein Leben auszusehen hatte. Horrorfilme, die Bildzeitung und Wolfgang Petri sollten darin nicht vorkommen.

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