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Baltikum

Ausgesperrt im eigenen Land

Die russische Minderheit in Estland lebt in einer Parallelwelt. Vor einem Jahr wurde die Statue eines Rotarmisten zum Symbol misslungener Integration. Was hat sich seitdem getan?

„Können Sie bitte 50 Kronen wechseln?“, fragt der kleine Junge, der gerade in das Café in der Altstadt Tallins gehuscht ist. Die Kellnerin, selbst kaum älter als 18 Jahre, schüttelt ihren Kopf: „Ich spreche kein Russisch“, entgegnet sie ihm in estnischer Sprache. Ein kurzes Achselzucken und der Knabe ist wieder auf der Straße.    

Obwohl sie in der selben Stadt geboren und aufgewachsen sind, haben beide sich nicht verstanden. In den jungen baltischen Staaten, also in Estland, Lettland und Litauen, gehören Situationen wie diese zum Alltag. Rund ein Drittel der Bevölkerung hat hier russische Wurzeln.

Galerie: Estland im Frühjahr 2008. Fotos von Anne Ackermann

„Meinem Vater wäre es genauso gegangen wie dem Kleinen – er spricht auch kein Estnisch“, sagt der 19-jährige Abiturient Roman Kornilov. Mit der allgegenwärtigen Trennung zwischen Esten und Russischstämmigen ist er vertraut. „Russen und Esten leben in zwei Welten: Sie besuchen getrennte Schulen, lesen verschiedene Zeitungen, sehen verschiedene Fernsehsender und arbeiten in verschiedenen Firmen“. Roman hat sich nach der Mittelstufe zwar für die estnische Staatsbürgerschaft entschieden, sieht seine Zukunft aber eher in einem anderen europäischen Land als in Estland.

Vor allem im Nordosten des Landes und in der Grenzregion zu Russland ist der Anteil der russischsprachigen Bevölkerung hoch. Als Estland noch Sowjetrepublik war, wurden hier Arbeitskräfte für die sozialistische Rüstungsindustrie angesiedelt. Damals waren die Zuwanderer priviligiert, sie verdienten besser als die Einheimischen und profitierten von der sozialen Fürsorge öffentlicher Einrichtungen. Gründe die estnische Sprache zu lernen, die im Zuge der Russifizierung unterdrückt wurde, hatten sie in dieser Parallelwelt nicht.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gerieten die einstigen Gewinner auf die Verliererseite. Die sozialistischen Betriebe wurden privatisiert oder geschlossen. Besonders in gut bezahlten leitenden Positionen oder in der Verwaltung sind Russen heute kaum noch beschäftigt, die Arbeitslosigkeit unter ihnen geht langsamer zurück als unter den vom Wirtschaftswachstum profitierenden Esten.

Wie tief die Wunden der Wende noch immer sind, wurde vor einem Jahr deutlich: Jugendliche zogen durch die Gassen der Tallinner Altstadt, warfen Steine und plünderten Geschäfte. Ein junger Mann kam unter bislang ungeklärten Umständen ums Leben, 40 Menschen wurden verletzt, mehr als 300 verhaftet. Auslöser für die größten Unruhen seit der Unabhängigkeit Estlands vor 15 Jahren war die bronzene Statue eines Rotarmisten.

Aljoscha, so wird das Denkmal für die Opfer des Zweiten Weltkrieges im Volksmund genannt, hatte seit 1947 seinen Platz im Zentrum Tallins. Als Aljoscha auf einen Friedhof in der Peripherie der Stadt weichen sollte, kam es zu den Ausschreitungen.

„Schikane, Faschismus“ und eine Verschwörungstheorie

Wir treffen Dimitri Linter auf dem Platz vor der Nationalbibliothek, dem früheren Standort des Metallsoldaten. Der 34-jährige ist Mitbegründer der so genannten Nachtwächter, einem losen Bündnis von Gegnern der Verlegung. Da er einer der Rädelsführer der Unruhen gewesen sein soll, wurde er zu sieben Monaten Haft verurteilt. Unter seinem engen Shirt zeichnen sich muskulöse Arme ab. Immer wieder wandert sein Blick hinüber zu jenem Ort, den heute nur ein paar rote Plastiknelken markieren – die Blumen waren einst Symbol sowjetischer Macht. Dimitri Linter, studierter Psychologe, macht nicht den Eindruck, als könne man ihn leicht einschüchtern.

Doch er zeigt auch eine weiche, nachdenkliche Seite. Bevor wir uns für ein Gespräch in ein gemütliches, von Russen betriebenes, Café setzen, führt er uns in eine kleine Kapelle nebenan. Wir treffen den Priester, der ihn während seiner Haft mit Nachrichten von Freunden und Familie versorgte.

Die Provokation sei damals von den Esten ausgegangen, sagt Dimitri Linter, die Gründung der Nachtwächter nur die Antwort auf eine nationalistische Kampagne gewesen. Innerhalb kürzester Zeit demonstrierten knapp tausend Anhänger der Nachtwächter vor dem Denkmal, sammelten Unterschriften und suchten das Gespräch mit der Regierung: „Wir haben davor gewarnt, dass es zu Unruhen kommen kann, falls es keinen normalen Dialog gibt.“

Der Ton, in dem Linter das sagt, ist ruhig und freundlich, seine Worte aber sind hart: Von Schikane und Faschismus spricht er, vom Unwillen der Esten, ihre russischstämmigen Mitbürger in Entscheidungen einzubeziehen, welche die gesamte Gesellschaft betreffen. Und schließlich kommt die ganz große Politik ins Spiel, eine gigantische Verschwörungtheorie: „Die Amerikaner wollen aus Estland eine Konfliktzone machen. Sie stimulieren in der estnischen Gesellschaft nationale Gefühle, damit es zwischen Russland und der Europäischen Union weiterhin Streit gibt“. Als wäre der Kalte Krieg nicht längst vorbei.

Die Blumen für Aljoscha werden zum Wahlkampfthema

„Gehen Sie doch gleich zu Putin! Ich rede nicht mit Ihnen”, sagt Marju Lauristin am Telefon, als sie erfährt, dass wir mit Dmitri Linter gesprochen haben. Der sei ein professioneller Lügner, ein Extremist, der seine Anweisungen direkt aus Moskau erhalte. Niemals würde sie sich mit Linter in einem Raum aufhalten. Am Ende lädt die Professorin für Soziale Kommunikation uns doch zu einem Gespräch in die Universitätsstadt Tartu ein.

In ihrem Büro ist die Schärfe aus der Stimme der 68-Jährigen gewichen. Sie versucht, uns den Konflikt, der sich hinter den Ereignissen im April des vorigen Jahres verbirgt, zu erklären. Der Streit um das Denkmal nahm seinen Anfang 2005. Russland feierte in Moskau den 60. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland, doch die Präsidenten Estlands und Litauens blieben der Zeremonie fern. Ihre Begründung: erst wenn Russland seine Interpretion der Nachkriegsgeschichte aufgebe, der zufolge sich die baltischen Staaten nach dem Sieg über Hitlers Wehrmacht freiwillig der Sowjetunion angeschlossen hätten, gäbe es einen Grund zum Feiern. Der wahre Grund für die Auseinandersetzungen liegt also noch viel tiefer in der Geschichte vergraben. Armer Aljoscha.

Marju Lauristin sagt, seit dem Eklat von 2005 hätte es plötzlich politische Aktivitäten rund um das fast vergessene Denkmal gegeben. Wie zu sowjetischen Zeiten mussten russische Schulkinder beispielsweise Blumen an seinem Sockel ablegen.

Um dieser Politisierung entgegenzuwirken, diskutierte die estnische Regierung über eine Umgestaltung des Platzes vor der Nationalbibliothek. Doch diese Pläne heizten den Konflikt erst richtig an: zahlreiche Parteien nutzten das Thema, um im Wahlkampf auf Stimmenfang zu gehen. Sie sprachen besonders viele ältere Esten an, denen die Angst, wieder zur Minderheit im eigenen Land zu werden, tief im Bewusstsein sitzt.

Nach der Wahl musste dann alles ganz schnell gehen. Aljoscha sollte über Nacht an seinen neuen Platz befördert werden, es kam zu Krawallen und Auseinandersetzungen zwischen Gegnern der Verlegung und der überforderten Polizei. Mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen gingen die Sicherheitskräfte gegen die außer Kontrolle geratene Menge vor.

Russland instrumentalisiert die russische Minderheit

Probleme mit der russischen Minderheit in Estland gebe es in anderen europäischen Ländern auch, sagte Marju Lauristin: „Viele Russen isolieren sich sehr stark. Sie bleiben in ihren Ghettos, haben keinen Kontakt zu Esten, schauen nur russisches Fernsehen“. Die Besonderheit in den baltischen Staaten sei, dass der russische Staat diese ablehnende Haltung unterstütze. Russlands Politiker hätten ein Interesse daran, die baltischen Russen von der Mitgestaltung ihrer neuen Heimat fernzuhalten.

Tatsächlich instrumentalisiert Russland die Minderheit gerne, um zu testen, wieviel Rückhalt die ehemaligen Sowjetrepubliken im Baltikum bei ihren europäischen Partnern haben. Im April vergangenen Jahres wurde zum Beispiel das Gerücht gestreut, die Statue Aljoschas sei in Stücke geteilt worden.

„Solche Falschmeldungen halten sich lange, weil besonders in Ostestland viele Russen nur die Nachrichten in ihrer Muttersprache verfolgen”, sagt Ken Koort. Der ehemalige Politiker, der im vergangenen Jahr als Vertreter des estnischen Bevölkerungsministeriums an der Grenze zu Russland arbeitete, weiß um die Probleme der russischen Minderheit.

Integration sei ein langwieriger Prozess, der von zwei Seiten ausgehen müsse: „Ich kann niemanden zwingen, Este zu sein, wenn er das gar nicht will”, sagt der 29-Jährige.

Zum Glück sei Estland ein kleines Land. Dass die Gesamtbevölkerung kaum mehr als eine Million Menschen ausmache, erleichert Koort zufolge die Integrationsbemühungen der Regierung: Die Anzahl der in estnischer Sprache unterrichteten Schulfächer soll stetig wachsen, die finanziellen Mittel für die Integration der Minderheit wurden verdoppelt. Nicht nur die Sprache, auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder die politische Teilhabe der Russen sollen systematisch verbessert werden.

Der Schüler Roman Kornilov schämte sich damals, als er die Unruhen auf Tallinns Straßen im Fernsehen verfolgte: „Das hat ein so schlechtes Bild auf die Russen geworfen.“ Dabei habe er nie das Gefühl gehabt, als Russe das Denkmal verteidigen zu müssen. „Ich möchte das Land, in dem ich lebe, mitgestalten und dabei spielt es keine Rolle, woher ich stamme.“ Vor kurzem hat Roman darum alle Lehrer seiner russischen Schule zu einem Seminar eingeladen und eine Rede über Toleranz und Multikulturalismus gaben. Er gab damit nur weiter, was er in einem Ferienkurs gelernt hatte: „Dass Unterschiede verbinden“.

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