Generationen
Wie Oma werden
Ich will auch so werden. Auch 84. Auf dem Sofa sitzen, die Beine in der Luft. In die Ferne blicken, durch die Enkel hindurch tief in die Vergangenheit tauchen.
Der Sonntagstext von Ariane Greiner
"Wenn ich nicht mehr will, nehm ich die einfach nicht mehr", sagt meine
Oma und meint die Entwässerungspillen, die sie täglich nehmen muss,
damit das Herz weiterhin mit Blut versorgt werden kann. Wahrscheinlich
gucke ich erschrocken, denn schnell schickt sie ein "Aber noch will ich
ja" hinterher.
Meine Oma guckt mich aus ihren dunkelbraunen Augen schelmisch an. Sie
sitzt auf ihrem hellgrauen Sofa, unter ihr ein Berg aus Kissen, kleinen,
großen, weichen und härteren. Die Beine hat sie hoch gelegt, um den
Vorgang der Entwässerung nicht unnötig zu verkomplizieren. Seit ihrer
Operation vor einem Jahr sehe ich meine Oma fast nur so: die Beine im
rechten Winkel vom Oberkörper gestreckt, einen halben Meter über dem
Boden schwebend.
Ich bin 34, Oma wird 84. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn
man den Körper mit Pillen, Salben, Tinkturen und anderen Tricks am Leben
erhalten muss. Wenn man ihm helfen muss, das zu machen, was er ein
ganzes Leben lang mehr oder weniger von allein getan hat, ohne dass man
je einen Gedanken daran verschwendet hätte, dass er dies alles eines
Tages vielleicht nicht mehr tun könnte.
Wenn Oma die Entwässerungspillen nicht mehr nimmt, hört ihr Herz auf zu
schlagen. So einfach ist das. Dass sie die Tabletten regelmäßig
einnimmt, heißt, dass sie ihr Leben immer noch lebenswert findet, obwohl
es sich bis auf wenige Ausnahmen zwischen Bett, Sofa, Küchentisch und
Toilette abspielt. Das tröstet mich. Es macht mir Mut, dass Oma so an
diesem Leben hängt, das nichts, aber auch gar nichts mehr mit dem Leben
zu tun hat, das mal ihres war und das jetzt unsichtbar geworden ist. Das
nur noch in ihrem Inneren wohnt, aber was heißt eigentlich "nur"?
Leben. Erleben. Was ist das? Wie viel von dem, was wir erleben, erleben
wir so, dass es einen nennenswerten Unterschied zwischen Jetzt und
Damals rechtfertigen würde? Welche Erlebnisse sind wahrer: die erlebten
oder die erinnerten? Kann man überhaupt im vollen Wortsinn LEBEN, wenn
man gerade vollauf damit beschäftigt ist, mit allen Sinnen zu ERLEBEN –
und mit allen Einschränkungen, die der Umgang mit Wirklichkeit im
hier & jetzt mit sich bringt? Lebt man nicht viel
echter/intensiver/reicher in der Erinnerung an das Erlebte als im
Erleben selbst? Ist die Erinnerung, ungetrübt von Dinglichkeit, nicht
die Essenz der Wirklichkeit, Wirklichkeitsextrakt? In die Erinnerung
können wir versinken, ohne Rücksicht zu nehmen. Wir können uns einfach
fallen lassen (in den Schnee/aufs Bett/auf eine Wiese/auf den
Wasserspiegel/in das Gewimmel der Großstadt...) und trotzdem sicher
sein, dass wir gehalten werden. Das Plasma der Erinnerung trägt uns.
Dann brauchen wir niemanden und nichts fehlt. In der Erinnerung sind wir
frei.
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