Generationen
Wie Oma werden
TEIL 2
Oma ist offensichtlich alles andere als frei: Zum Gehen braucht sie
ihren Laufwagen, zum Öffnen einer Sprudelflasche braucht sie andere
Hände, jede halbe Stunde muss sie aufs Klo, wegen der
Entwässerungspillen, und spazieren gehen kann sie höchstens zehn Minuten
lang, dann wird es zu anstrengend. Obwohl ihr der Körper langsam aber
sicher zum Gefängnis wird, wirkt Oma nicht wie eine Gefangene.
Vielleicht ist es eine eigene Freiheit, eine, die eben nicht so aussieht
wie man sich – "liberté, toujours" – das Konstrukt Freiheit gewöhnlich
vorstellt. Oma wirkt trotz der körperlichen Gebrechen zufrieden. Eine
tiefe Ruhe geht von ihr aus, die nichts mit ihrer Geschwächtheit zu tun
hat. "Ich habe die Wahl", sagt sie. "Entweder verzweifle ich jeden Tag
darüber, was ich alles nicht mehr kann, oder ich freue mich über das,
was ich noch kann."
Ich bewundere meine Oma. Ich frage mich, wie sie das macht, und im
nächsten Moment fällt mir die Antwort ein: Oma hatte Opa. Von diesem
Glück lebt sie heute noch. Es beschützt sie und wärmt sie wie der dicke
Wollmantel, in den Opa sie bei einem ihrer ersten Rendezvous gewickelt
hat. Obwohl er früh gestorben ist – Oma war damals 54, sah aus wie 35
und konnte sich vor Verehrern kaum retten – hat sie sich nie wieder von
einem anderen Mann berühren lassen. Es wäre immer nur ein lächerlicher
Versuch gewesen, den Schmerz zu betäuben. Auch Jahre später, als die
Freude über die Erinnerung an das Leben mit ihm endlich wieder Platz
hatte neben all dem Schmerz, hat sie jedes Mal nur abgewunken. Jeden
noch so gut gemeinten "So wie duuuu noch aussiehst!"-Ratschlag hat sie
mit einer einzigen energischen Handbewegung weggewischt, als handele es
sich um eine der vielen Eintagsfliegen, die im Sommer ihre Küche
bevölkerten. Einmal erzählte sie mir nicht ohne Stolz, dass sie gerade
einem Millionär einen Korb gegeben hatte. Obwohl ich mir damals nicht
vorstellen konnte, dass es Körbe gibt, die über derart magische Kräfte
verfügen, dass sie Millionäre von ihren Heiratsplänen abbringen, ahnte
ich, dass das Geheimnis dieses Zauberkorbs viel damit zu tun hatte, wie
Oma aussah, wenn sie von Opa erzählte.
Ich will auch so werden. Auch 84. Auch auf dem Sofa sitzen, die Beine in
der Luft. In die Ferne blicken, durch meine Enkel hindurch tief in die
Vergangenheit tauchen, das Erlebte wieder erleben, zeitlos diesmal,
damit die Enkel auch dabei sein können. Noch lieber würde ich das alles
natürlich beim Joggen tun oder beim Tanzen. Aber wenn das nicht geht,
will ich mich freuen können, dass ich noch allein aufs Klo kann. So wie
Oma.
Natürlich will auch ich so einen Mantel. Jeder will das. Wer anderes
behauptet, ist den billigen Predigern des Individualismus auf den Leim
gegangen. Sie sprechen das "Ichkannauchalleinglücklichsein"-Mantra so
lange in ihr Spiegelbild, bis sie selbst daran glauben. Die ganz
Schlimmen unter ihnen versuchen sogar, die neue Heilslehre
weiterzuverkünden. Weil sie selbst die Hoffnung auf so einen
Wundermantel aufgegeben haben (Wunder, sagen sie, gibt es nur im
Märchen), wollen sie diesen Mangel in den Vorteil vermeintlicher
Unabhängigkeit verwandeln und merken gar nicht, dass sie dabei das
verlieren, was sie von einer Maschine unterscheidet. Aber vermutlich
merken sie das im Taumel ihres turboindividualisierten Miles&More-Lebens
gar nicht mehr. Fragt man sie, ob sie glücklich sind, antworten sie
lachend mit "Aber hallo!", verweisen auf ihren jüngsten Aktiencoup,
werfen ("Olé-Olé!") die Sporttasche über die Schulter und verabschieden
sich schnell in Richtung Wellnesstempel, denn Streicheleinheiten sind
gut für die Seele und der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Ob
Berührungen überhaupt wirken, wenn man sie bezahlen muss, wäre eine
Studie wert. Aber wer soll solche Expertisen finanzieren? Porsche?
Bertelsmann? Die EU? o2?
Ich bin 34, ein halbes Jahrhundert jünger als meine Oma. Schon jetzt
freue ich mich über viele Erinnerungen und habe Angst, dass ich sie
eines Tages verlieren könnte. Aber fast noch mehr freue ich mich auf die
zukünftigen. Vielleicht finden sich ja ein paar darunter, die es wert
sind, auch nach Jahrzehnten noch weitererzählt zu werden. So wie die
Erinnerung an einen schweren Wollmantel, der sich eines Tages aus
heiterem Himmel geöffnet hat. Der einen auch dann noch wärmt, wenn es
ihn längst nicht mehr gibt. In den man sich trotzdem noch wickeln kann,
weil man weiß, dass es ihn mal gegeben hat.
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