Ein seltsames Bündnis: Christen, Sozialisten und Autonome haben sich vereint, um gegen den G8-Gipfel zu protestieren. Bislang hält die Koalition.
Von Oskar Piegsa
In Neukirchen gibt es kein Internet, keinen Bahnhof und wäre nicht das Pfarrhaus, würde die Post den Betrieb des einzigen Briefkastens im Ort wohl einstellen. Im Gemeindesaal haben sich heute Nachmittag die Seniorinnen von Neukirchen bei Kaffee und Streuselkuchen versammelt. Man könnte denken, dass hier, in der ostdeutschen Provinz, der Rest der Welt egal ist – es wäre aber falsch.
„Wo liegt eigentlich Kuala Lumpur?“, fragt Maria Pulkenat. Ein Raunen geht durch die Gruppe. „Klingt nach Afrika“, sagt eine der Damen. „Ist aber in Malaysia“, Maria Pulkenat beginnt zu erzählen. Von der Armut dort und von den protzigen
Petronas Towers
. Davon, dass der Mineralölkonzern zwar das Formel 1-Team Sauber sponsert, sich sonst aber nicht immer sauber gebärdet. Davon, dass Petronas sein Öl auch aus Darfur bezieht, wo die Menschen von dem Geld ihren Kindern lieber Waffen kaufen als Schuldbildung. Maria Pulkenat ist evangelische Bildungsreferentin im Landkreis Güstrow, unterwegs in Landgemeinden zwischen Rostock und der mecklenburgischen Seenplatte. „Ich bin Handlungsreisende in Sachen Globalisierung“, sagt sie.
In Neukirchen ist gerade viel los: Neues Jahr, neue Pastorin, im vorigen Sommer war George W. Bush in der Region, in diesem Juni kommt er wieder und bringt die Staatsoberhäupter der G8-Staaten, die mächtigsten seiner Kollegen, ins nahe Heiligendamm mit. Die Synode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburg hat deshalb das Thema Globalisierung auf die Agenda gesetzt. Und darum ist Maria Pulkenat, promovierte Literaturwissenschaftlerin, passionierte Frauenrechtlerin mit Zweitwohnsitz Berlin, nach Neukirchen gekommen. Um über Gott und mehr noch über die Welt zu sprechen. Über eine Welt, die in den vergangenen Jahren kompliziert geworden ist und längst auch bis nach Mecklenburg reicht.
In Berlin-Friedrichshain gibt es keinen Kaffee, sondern Bier. Der Altersdurchschnitt der Anwesenden liegt gut 50 Jahre unter dem in Neukirchen. Anstelle des Kruzifixes hängt ein Porträt von Rosa Luxemburg an der Wand. Und ein Poster informiert: „So sehen Spitzel aus“. Marco sitzt am Tresen der Kneipe Liberación und raucht Cabinet-Zigaretten, eine alte DDR-Marke. Er ist Gründungsmitglied von Solid, dem Jugendverband der Linkspartei/PDS. 130 Mitglieder hat die Gruppe in Berlin, verteilt auf sieben Bezirke. „Den Kapitalismus abzuschaffen ist keine Utopie, sondern eine Notwendigkeit“, sagt Marco. „Mindestens in bestimmten Bereichen, der Medizin, der Ernährung. Menschen nicht zu ernähren, die man ernähren kann, Menschen nicht zu heilen, die man heilen kann – für mich ist das Mord.“
Solid und die
Mecklenburgische Landeskirche
sind im Rostocker Anti-G8-Bündnis vereint – einem Zusammenschluss von Globalisierungskritikern aus der Region. In der Vergangenheit galt vor allem Attac als Stimme der Bewegung. Nach den Ausschreitungen beim G8-Gipfel in Genua 2001 wuchsen die Mitgliedszahlen des Netzwerkes von 500 auf 10.000. Attac wurde zum Synonym für Globalisierungskritik. Doch im Nordosten der Republik fehlt die Infrastruktur für breiten Protest. „Auf Bundesebene hat Attac eine Scharnierfunktion für verschiedene politische Spektren“, sagt Monty Schädel, „aber hier in Mecklenburg-Vorpommern ist Attac nur eine kleine Gruppe unter vielen.“ Schädel ist Geschäftsführer der
Deutschen Friedensgesellschaft
und Koordinator des Rostocker Bündnisses. „Bunt und vielfältig“, solle der Protest gegen die G8 werden. Das Bündnis meldete eine Großdemonstration mit 100.000 Teilnehmern an, organisiert Protestcamps und koordiniert Aktionen einzelner Gruppen. „Wer sich den G8-Gipfel einlädt, lädt sich auch den Protest ein“, sagt Schädel. Er will das zivilgesellschaftliche Engagement stärken und verhindern, dass eine Welle unorganisierter, wild campender Globalisierungsgegner das Land überrollt.
Die Unzufriedenheit mit der Politik der G8 und der Glaube an eine gerechtere Welt ist der gemeinsame Nenner der Globalisierungskritiker. Was sie trennt, ist die Frage nach den Mitteln. Es geht nicht nur um die Gewaltfrage, sondern zunächst einmal darum, ob man mit der G8 überhaupt zusammenarbeiten darf. Immerhin haben deren Staatschefs die Macht, Dinge zu verändern. Theoretisch auch zum Guten. Doch kommt konstruktive Kritik bei ihnen an?
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Mit den weniger radikalen Kritikern umzugehen haben die Planer der G8-Gipfel längst gelernt. Vor zwei Jahren übten die Musiker Bono Vox und Bob Geldof mit ihren
Live-8-Konzerten
Druck auf das G8-Treffen im schottischen
Gleneagles
aus. Ihr Anliegen, der Schuldenerlass gegenüber Afrika, traf auf ein weltweites Publikum, das sich von Attac und Co. nur schwer hätte mobilisieren lassen. „Geldofs Engagement hatte großen Einfluss auf unsere Agenda“, sagte später Michael Jay, der das Gipfeltreffen für die englische Regierung vorbereitet hatte. Die G8 beschlossen einen Schuldenerlass für Afrika, feierten Gleneagles als den Entschuldungsgipfel, auch die Live-8-Organisatoren wirkten zufrieden.
Seit dem Gipfel in St. Petersburg im vergangenem Jahr hat die Zusammenarbeit zwischen den G8 und zivilgesellschaftlichen Initiativen einen festen Rahmen gefunden. Ende April trafen sich die Unterhändler der G8, die sogenannten Sherpas, mit fast 250 Vertretern von Nichtregierungsorganisationen zum zweiten „
Civil G8 Dialogue
“. Dort wollten sie sich der Kritik stellen. Diskutiert wurde unter anderem das Erbe von Gleneagles. Denn die beschlossenen Schuldensenkungen haben bisher kaum Konsequenzen nach sich gezogen. Bisher haben die reichen Staaten der Dritten Welt grade einmal 0,3 Prozent der Schuldenlast erlassen, sagt Philipp Hersel von der
Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Umwelt und Entwicklung
. Viele Gruppen, die mehr wollen, als kosmetische Verbesserungen des globalen Kapitalismus, haben am „Civil G8 Dialogue“ gar nicht erst teilgenommen. Ihnen gilt der Dialog mit der Zivilgesellschaft als Alibi-Veranstaltung eines unrechtmäßigen Weltregierungs-Clubs.
„Natürlich besteht die G8 aus gewählten Staatschefs“, sagt Marco von Solid, „aber aufgrund ihrer ökonomischen und militärischen Macht entscheiden sie über alle Menschen auf der Welt. Und das ist illegitim.“ Statt auf Zusammenarbeit setzt Solid ebenso wie Attac und zahlreiche andere Gruppen darauf, den G8 mit zivilem Ungehorsam die Arbeit zu erschweren und beteiligt sich an den Blockaden der Zufahrtsstraßen nach Heiligendamm. Alle Übersetzer, Journalisten und Beamten, die nicht in unmittelbarer Nähe des Veranstaltungsortes untergebracht werden konnten, sollen gar nicht erst bis zum „illegitimen“ Gipfel durchkommen. Auch eine Besetzung des Flughafens Rostock-Laage, an dem der Großteil der Beteiligten ankommen soll, ist geplant. Zusätzlich zur gemeinsamen Großdemonstration von Kirche, Solid, Attac und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen planen einzelne Gruppen und Bündnisse themenspezifische Aktionen: Blockaden, Besetzungen, Bildungsarbeit, jeder nach seiner Fasson.
Doch statt sich wie viele linke Bewegungen in der Vergangenheit in Richtungsstreit und Flügelkämpfen zu zersplittern, rühmt sich die Anti-G8-Bewegung ihrer Vielfältigkeit – und auch ihrer Widersprüchlichkeit. „Bei uns sind kontroverse Meinungen willkommen, anders als bei den G8, einem abgeschotteten Club, der sich hinter Zäunen verschanzt“, sagt Ralf Göttlicher, G8-Koordinator der Mecklenburgischen Landeskirche.
In der Vergangenheit war es alles andere als selbstverständlich, dass Christen konstruktiv mit Sozialisten zusammenarbeiteten und Pazifisten sich mit gewaltbereiten Autonomen verbündeten. „Natürlich könnten noch Konflikte in unserer Bewegung ausbrechen“, sagt Koordinator Monty Schädel, „aber zumindest können wir Leute politisieren, die wir sonst nicht erreicht hätten. Politik ist eben ein Ringen um Mehrheiten.“ Bisher haben sich einzelne Protestparteien im Interesse der gemeinsamen Sache zurückgehalten. Die Grünen, die wegen einiger Formulierungen den Aufruf zur Anti-G8-Demonstrationen nicht unterzeichnen wollten, laden nun schlicht mit ihren eigenen Worten zur Demo ein. Marco dagegen geht das alles nicht weit genug – weil nirgendwo das Wort „Kapitalismus“ als Feindbild auftaucht, sondern nur die „neoliberale Globalisierung“.
Konsensfindung hat viel mit Wortfindung zu tun – da geht es den Gipfelgegnern nicht anders als dem Sherpa-Stab der Bundesregierung, der seit einem halben Jahr in intensiver Zusammenarbeit mit den anderen G8-Staaten die Positionspapiere für Heiligendamm vorbereitet. Und die zur Zeit mit den Vertretern der USA ausfechten, zu wie viel Klimaschutz sich die G8 verpflichten werden. Auf die Gefahr hin, dass es mit der Umsetzung ohnehin so ähnlich kommen könnte wie mit der in Gleneagles beschlossenen Entschuldung. Nämlich gar nicht.