Trinken
Den lila Elefanten sehen
Mit Alkohol sind die Katzen auch nachts bunt. Aber wer sagt, dass diese Farbigkeit nicht real ist?
Eine Ode von Jan Joswig
Wer hat gesagt, die Wirklichkeit sei das, was man mit null Promille wahrnimmt? Wenn die Mehrheit der Menschen dauerhaft volltrunken wäre, wäre die trunkene Perspektive die wirkliche. Ständig wäre alles an den Rändern pelzig, aufregend unklar und auf unerklärliche Weise doch zusammenhängend. Ständig würden Dinge passieren, über die man sich wie über Überraschungsgeschenke freut, weil man sich an ihre Ursachen nicht erinnern kann. Ein Leben in höheren Zusammenhängen, assoziativ philosophisch und voller Gedanken und Ideen, die man nicht erst mühevoll ausbrüten muss, die einem stattdessen in den Schoß fallen. Alles wäre immer so, wie wenn man betrunken ist.
Anfang der Achtzigerjahre entwickelte sich in der us-amerikanischen Punkszene eine neue Jugendkultur. Die so genannte Straight Edge-Bewegung glaubt, die Befreiung aus repressiven Verhältnissen beginne mit einem nüchternen Kopf – ihre Anhänger rauchen nicht, nehmen keine Drogen und trinken keinen Tropfen Alkohol. Für Bürgerkinder westlicher Industrienationen wird andersherum ein Schuh daraus: Der nüchterne Kopf hält sie gefangen zwischen den Scheuklappen einer repressiven Vernunft. Dass manche Dinge komplett irrational sind, können sie zwar zugeben, aber nie selbst erfahren. Antoine Saint Exupéry hat mal geschrieben: Nur mit geschlossenen Augen sieht man gut. Aber warum auf halbem Weg halt machen? Nur mit ein paar Drinks intus sieht man gut.
Mit fünfzehn begann ich, auf Bierautomaten – die damals noch jugendschutzfrei auf der Straße standen – zu sitzen und vorgebeugt zwischen den baumelnden Beinen die Halb-Liter-Flaschen aus den Fächern zu ziehen. Seitdem gehöre ich zur Gemeinschaft derjenigen, für die auch nachts die Katzen bunt sind. Eine Gemeinschaft, die sich zu mindestens 80 Prozent mit den kreativ Tätigen und zu 99,9 Prozent mit den Nachtaktiven deckt.
Der Kater am Tag danach ist ein Mythos, den unprofessionelle Gelegenheitstrinker erfunden haben. Menschen, die in dieses Leben nur mal reinschnuppern, sich ab und zu am Wochenende gnadenlos betrinken, aber noch nie in einem Club bei Putzlicht die Reste aus den stehen gelassenen Tequila-Gläsern geschlürft haben.
Der regelmäßige Blackout ist die höchste Weihe: zwei bis drei Mal die Woche die wohlige Gewissheit, zu Hause aufzuwachen, obwohl man sich partout nicht an den Heimweg erinnern kann. Und wenn es mal nicht das eigene Zuhause ist, dann fühlt es sich zumindest so an. Das Grass am Kanal oder die eigene Matratze, wen kümmert das schon? Betrunken legt man sich sowieso nie in Hundescheiße. Jeden Morgen wieder die Vorfreude, auf Menschen zu treffen, mit denen man zehn Stunden vorher noch gesprochen hat, aber worüber nur? Werden sie einen schneiden, ohrfeigen, umarmen? Egal, jede Ohrfeige ist wie eine Umarmung im wattierten Schutznimbus der Trunkenheit.
Alkohol ist ein mächtiger Schirmherr. Wenn ich betrunken bin, bin ich ein hingebungsvoller Tänzer, der die Lücken zwischen den Armen und Beinen der wirbelnden Körper findet, um seine eigenen Arme hindurchzustecken – dabei immer graziös im Takt bleibend. Das bestätigen auch andere Betrunkene. Die Nüchternen, die mich für einen Storch im Eiersalat halten, haben in der nächtlichen Welt des Clubs ohnehin nichts zu melden. Ihre Wirklichkeit ist hier so wenig ausschlaggebend wie die eines Betrunkenen in der Tageswelt – der als Einziger den rosa Elefanten auf der Kreuzung sieht.
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