RELIGION
Ich und Gott
Anne betet jeden Morgen. Sie geht Sonntags zum Gottesdienst und will keinen Sex mit ihrem Freund. Angela Sommersberg
hat versucht, sie zu verstehen
Anne und Gott kennen sich schon immer. Nur wo sie sich treffen sollten, war lange Zeit nicht klar – bis zu jenem Tag im Juli. Sonnenstrahlen fielen damals durch die Blätter der Bäume und Anne stieg, mit T-Shirt und Hose bekleidet, in einen Swimmingpool. Es war ihre zweite Taufe.
„An diesem Tag habe ich vor der sichtbaren und unsichtbaren Welt bekannt, dass Gott für immer an erster Stelle in meinem Leben stehen wird.“
„An diesem Tag habe ich vor der sichtbaren und unsichtbaren Welt bekannt, dass Gott für immer an erster Stelle in meinem Leben stehen wird.“
Anne lächelt verzückt, ihre Augen drehen sich hinter den randlosen, sauberen Brillengläsern. Die schlanken Finger mit den zartrosa lackierten Nägeln schlingen sich um eine Heinzelmännchentasse. Der Geruch von Weihnachtstee liegt süß und schwer in der Luft, an den Fenstern kleben gelbe Sterne. Anne lebt hier allein: Zimmer, Kochnische, Bad, mitten in Köln.
Jeden ihrer Tage beginnt die Zwanzigjährige mit Bibellektüre und Interpretation. „Für den guten Start“, sagt sie. Und jeden Abend betet sie zu Gott und beichtet ihre Sünden. Gegen ein Gebot zu verstoßen, bedeutet Gott zu verletzen. Zum Beispiel, wenn sie wieder einmal daran gedacht hat, wie es wohl wäre, mit ihrem Freund Jan zu schlafen. „Umso mehr ich es mir vorstelle, desto eher könnte es passieren.“ Aber das darf nicht sein. Schließlich ist Sex dem „geschützten Raum innerhalb der Ehe“ vorbehalten. So ähnlich steht es in der Bibel. Annes Augen drehen wieder Kreise. „Ich weiß, du hältst mich für verrückt!“, sagt sie dann.
In Annes Kirche gibt es keine himmelhohen Bleigasfenster und keine goldenen Engel. Statt dessen haben die Gemeinderäume weiß getünchte, schmucklose Wände. Es gibt auch keinen Pastor, jedes männliche Gemeindemitglied kann aufstehen und predigen. Immer Sonntags treffen sie sich zum gemeinsamen Brotbrechen. Für Anne gilt das Schweigegebot, weil sie eine Frau ist, darf sie ihre Stimme nur in Gebeten und Liedern erheben. Das findet sie nicht diskriminierend, sondern angenehm: „Einfach nur zuzuhören ist ziemlich entspannend!“
Mehr als 600
Brüdergemeinden
gibt es in Deutschland, schätzungsweise 40.000 Menschen haben sich in ihnen zusammengefunden. Die verschiedenen Freikirchen verbindet ihre Abneigung gegen religiöse Autoritäten: Für sie zählt der reine Glaube und die wortgetreue Auslegung der Bibel, heilige Reliquien lehnen sie ebenso ab, wie die festen Liturgien der katholischen Gottesdienste.
Anne war 19 Jahre alt, als sie ihren „liebenden Gott“ fand. Als sie 13 war, trennten sich ihre Eltern. Unspektakulär, ohne großen Streit. Der Vater zog einfach aus. An seiner Stelle fuhr nun eine Bekannte ihrer Mutter mit in den Urlaub. Sie erzählte viel über freie christliche Gemeinden, über Gott und den Weg zu ihm, über Nächstenliebe.
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