Die Idee ist schön: Wenn Kinder wählen dürften, müssten Politiker mehr für sie tun. Doch ist das fair und vor allem machbar? Es gibt bessere Lösungen
Von Carsten Lißmann
Es ist der 27. September 2009 – Wahlsonntag. Ein Mann geht mit einem Blatt Papier durch die Turnhalle einer Hamburger Schule. Er will den Zettel gerade in die Wahlurne werfen, als er ein Zupfen am Hosenbein spürt: "Onkel, kannst du mich hochheben, ich kann meinen Zettel nicht einwerfen. Der Kasten ist viel zu hoch!"
Wenige Minuten später taucht ein gepflegt, aber unsympathisch wirkender Herr mittleren Alters auf. "Neun so Zettel krieg' ich", sagt er zu dem verdutzten Wahlhelfer. "Acht für meine Frau und die Gören, einer für mich." Tatsächlich: Nach der Grundgesetzänderung vom 12. November 2008 steht allen Eltern eine zusätzliche Stimme pro Kind zu. Unser Mann hat sieben davon. "Das waren neun Kreuze gegen die Asylanten", lacht er beim Verlassen des Wahllokals.
Beide Szenarien sind extreme Varianten einer Idee, die schon seit einiger Zeit durch die Republik geistert: Das Kinderwahlrecht. Gruppen wie die Initiative
Ich will wählen
fordern dessen Einführung seit Jahren. In der Politik kam das Thema an, als im September 2003 Abgeordnete aus verschiedenen Parteien
einen entsprechenden Antrag formulierten
. Darin stand: "Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Wahlrechts ab Geburt (...) vorzulegen." Der Vorschlag wurde von den Parlamentariern abgelehnt, doch die Befürworter des Kinderwahlrechts geben nicht auf.
Die frühere Familienministerin
Renate Schmidt
hat angekündigt, gemeinsam mit anderen Abgeordeten einen erneuten Antrag auf Einführung des Kinderwahlrechts in den Bundestag einzubringen. Schon im Frühjahr soll es soweit sein. Das Mindestwahlalter soll auf 0 Jahre abgesenkt werden, aber bis zu "einem gewissen Alter sollen die Eltern für ihre Kinder deren Stimmen abgeben können", sagt Renate Schmidt. Um diesen Satz zu verstehen, muss man einen Blick auf die bisherige Debatte werfen.
Juristen unterscheiden drei Spielarten des Kinderwahlrechts.
Erstens: Die reine Form. Jeder Mensch soll bei seiner Geburt eine Stimme erhalten, die aber erst an der Wahlurne zum Einsatz kommt, sobald er oder sie dazu in der Lage ist. Kleinkinder, die mit der Babyrassel abstimmen, muss also niemand befürchten – das Kind muss sich aus eigenem Antrieb in das Wählerverzeichnis eintragen lassen. Zumindest sprechen sollte es also können.
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Zweitens: Das Familienwahlrecht. Hier wird das Wahlrecht schon bei der Geburt wirksam. Bis zum Erreichen eines bestimmten Alters – im Zweifelsfall die Volljährigkeit – wird die Stimme allerdings den Eltern übertragen. Die Idee dahinter: Eltern wissen, was für ihre Kinder gut ist, sie können die Interessen der jungen Generation vertreten.
Drittens: Das Stellvertreterwahlrecht. Jetzt wird es knifflig, denn anders als beim Familienwahlrecht fällt die Stimme der Kinder nicht den Eltern zu. Stattdessen füllen diese den Stimmzettel stellvertretend im juristischen Sinne des Wortes aus. Im Bürgerlichen Gesetzbuch steht dazu: "Eltern besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an." Anders gesagt: Am Küchentisch wird diskutiert und erklärt, an der Wahlurne muss das Kind dann seinen Eltern vertrauen.
Vor allem die ersten beiden Varianten unterscheiden sich in ihrem politischen Motiv – als würden Pippi Langstrumpf und Angela Merkel um den Limonadenbaum streiten.