Er ist nicht schön, aber er hat Kraft und beruhigt mich. Ich kann ihn anschreien und mit Steinchen bewerfen. Mein Fluß – Heimat, zweiter Teil
Von Hannah Wadle
Es ist warm, 15 Grad, und dabei windig. Ein grauer, von Wolken verhangener Himmel spiegelt sich im bräunlichen Strom des Rheins. Ich lasse zwei flache Kieselsteine auf der Wasseroberfläche springen. Der erste macht vier Hüpfer, der zweite geht mit einem Plumps sofort unter. Dreiundzwanzigster Dezember in Speyer.
Ich habe ihn nie besonders schön gefunden, den von
Tulla
so gnadenlos gerade gebogenen Rhein. Von Dezember bis März ist er anstößig nackt, kein Grün, das ihn kleidet, schmucklos ehrlich. Wenn ich dem bunten Wahnsinn, der mich als 21-jährige mitreißt, gelegentlich den Rücken kehren möchte, kommt mir das gerade recht. Das träge Fließen und die große Wasserfläche beruhigen mich. Sobald ich mich von den Stöckelschühchen und neuen Mäntelchen, die an der Rheinpromenade spazieren geführt werden, entfernt habe, fange ich an, leise vor mich hin zu singen, dann lauter, irgendwann schreie ich. Kein Wässerchen kräuselt sich, der Rhein schluckt, was ich speie. Liebeskummer, Erwartungsdruck, Überdruss, Sehnsucht, Abschiedsschmerz. Wie die Jahre zuvor auch.
Morgen werde ich mit ihm meine Kraft messen. Werde in ein schnittiges Ruderboot steigen und merken, dass ich nicht mehr so stark bin wie früher. Damals glaubte ich, sogar ihm, dem großen Strom, die Stirn bieten zu können. Heute bin ich untrainiert, schwächer und realistischer. Lasse mich auch mal treiben, statt ständig gegen ihn anzukämpfen. Ich erkenne seine Autorität an.
Vor nicht allzu langer Zeit stand im Domgarten Speyers, in einem Brunnen, eine Statue der
Filia Rheni
, der Tochter des Rheins. Da sie nur eine Leihgabe an die Stadt war, baute man sie zu Ende des Leihvertrages wieder ab. Trotzdem hat Speyer nur eine Rheintochter von vielen verloren. Ich bin eine von denen, die übrig geblieben sind.
Sicherlich keine Rheinromantikerin, dafür steht er mir zu nahe, der Vielbesungene. Ich war wütend, als er an meinem 14. Geburtstag so voll war, dass mein perfekt geplantes Picknick am Rheinstrand ins Wasser fiel. Die improvisierte Hochwasserexpedition war allerdings fast aufregender. Ich kann ihm doch immer etwas Gutes abgewinnen. Vermutlich bin ich deshalb eher eine Rheinpragmatikerin: Habe mir ein Stück Heimat gesucht, das mir so schnell nicht abhanden kommen kann.
Selbst wenn es meine Stadt eines Tages so nicht mehr geben sollte, wie ich sie nach dem Abitur erstmals verließ, mit den Menschen, die ich kannte, dem Dialekt, der anderen Schüttelfrost verursacht und den Häusern, die mir jedes Jahr kleiner vorkamen. Dann werde ich zumindest den Rhein wieder erkennen und Steine springen lassen.
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Über die Feiertage wird es einsam in der Stadt: Alle fahren da hin, wo sie mal herkamen. Wo ihre Familie lebt und die alten Freunde. Heimat. Wie es dort ist und was das für sie bedeutet, werden Zuender-Autoren in den nächsten Tagen hier aufschreiben
zuender.zeit.de/heimat