Hier in meinem Hamburger Vorort hat sich nicht viel verändert. Das ist gut so. Heimat, dritter Teil
Von Sarah Benecke
Ich fühlte mich wieder wie das kleine Mädchen, das von der Schule nach Hause kommt. Mit der Geige auf dem Rücken, die Tasche unter den rechten Arm geklemmt und voller Vorfreude auf unser warmes Wohnzimmer. Der Haselnussweg in Hamburg-Bramfeld ist keine besondere Straße, und doch gibt sie mir mit ihren überhängenden Linden, den Einfamilienhäusern und den gemächlich voran schreitenden Spaziergängern immer das Gefühl, angekommen zu sein.
Bestimmt tausendmal bin ich diesen Weg schon gelaufen, den Bucheckernweg entlang bis zum Ende und dann links, das vierte Haus auf der linken Seite ist unseres. Ein rotes Backsteinhaus, ein kleiner, etwas verwilderter Vorgarten, ein Carport mit bewachsenem Dach. Obwohl ich mich in meiner neuen Heimat Leipzig nach einem Jahr gut eingelebt habe, weiß ich doch ganz genau, dass hier mein Zuhause ist. Es ist nicht nur ein Wohnort, sondern ein Platz, an dem Erinnerungen hängen.
Wie ich mit meinen Freundinnen im Vorgarten saß und Suppe aus Matsch und Sand kochte. Wie ich etwas später von hier aus zum Geigenunterricht radelte. Die wilde Party an meinem neunzehnten Geburtstag, auf der ich zuviel Ouzo trank, und gemütliche Abende mit meinen drei Brüdern vor dem Fernseher. All das sah ich wieder, als ich durch die Gartenpforte ging.
Zu Weihnachten sind diese Bilder immer besonders deutlich. Kaum hatte ich begonnen, mit meinem Schlüssel zu klimpern, erwachte unser Hund. Bessy, die bellen kann wie ein Pitbull, aber in Wirklichkeit mehr Angst hat als ein verschrecktes Kaninchen, kratzte an der Tür und sprang jaulend vor Freude an mir hoch, als diese aufging. Ein Gefühl der Wärme überflutete mich, bestärkt durch den rot beleuchteten Stern und die Lichterkette im Flur. Ich war da.
Im Moment ist es ruhig im Haus. Ich sitze im Arbeitszimmer meiner Mutter und atme auf. Eben haben sich mein Vater und mein älterer Bruder Denis noch darüber gestritten, wer denn nun die Kühlschranktür zu lange offen gelassen hat. Mein Vater guckt noch kurz durch die Tür: "Kannst du nicht mal deine Geige wegräumen? Die versperrt den ganzen Flur." Einfach ja sagen, schon ist er draußen, um den Weihnachtsbaum hereinzuholen. Es ist der 23. Dezember, ein Tag vor Weihnachten. Meine Mutter und mein kleiner Bruder Timo sind Geschenke kaufen gegangen, mein ältester Bruder Jens wird heute 29 und hat uns alle zum Essen eingeladen. Vor einer Stunde rief er an und fragte, ob Mama da sei, er bräuchte einen Tipp für den Schnellkochtopf.
Jedes Mal, wenn sich das Jahr seinem Ende neigt, fällt mir wieder auf, wie sehr sich die Menschen verändert haben. Vor fünf Jahren wäre es für Jens noch eine Meisterleistung gewesen, sich Spaghetti zu kochen. Heute guckt er sich mit seiner Freundin Kochsendungen im Fernsehen an und kauft sich japanische Messer für 180 Euro.
Vielleicht fällt es mir so auf, weil Weihnachten die einzige Zeit im Jahr ist, in der unsere sechsköpfige Familie vollständig beisammen ist. Zugegeben, die Familie und damit auch das Fest haben sich verändert. Vor zwei Jahren war plötzlich nur noch eine Oma da, vor einem Jahr dann das erste Mal gar keine Großeltern mehr – meine Großväter habe ich nie kennengelernt. Es war ein eigenartiges Gefühl, das zwei Generationen auf einmal unter sich sein sollten, und nie fiel es stärker auf als an Heiligabend. Wenn beide Omas – gemütlich in der Couch eingesunken – zuschauten, wie wir Kinder ein Weihnachtsständchen präsentierten, "Macht hoch die Tür" mitsangen und lächelnd ihre Geschenke austeilten, gab mir das immer ein Gefühl von Geborgenheit und Ruhe.
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Unser Wohnzimmer strahlt diese Ruhe immer noch aus. Und doch ist es nicht dasselbe, wenn sich meine Brüder auf die Couch flegeln und der eine mit dröhnender Tenorstimme "Ihr Kinderlein kommet" zum besten gibt, während der andere die Augen verdreht und sich fragt, wann dieser Spuk endlich ein Ende hat. Am schönsten ist es, abends zusammen im Wohnzimmer zu sitzen und sich alte Filme anzugucken. Seit mein Bruder Denis das Licht der Welt erblickte, hat mein Vater uns mit der Kamera verfolgt, unerbittlich. Früher bin ich oft davor geflüchtet – heute danke ich ihm dafür. Wie sonst könnten wir uns heute noch über Klein-Sarah amüsieren, die in der Tür steht mit einer Flasche in den Händen, die halb so groß ist wie sie, strahlt und deklariert: "Bier!", während Klein-Denis hinter ihr gar nicht mehr aufhören kann zu kichern.
Jedes Jahr, wenn ich kurz vor Weihnachten zuhause durch die Gartenpforte gehe, erinnere ich mich an diese Momente, aber jedes Mal sind andere Empfindungen mit dabei. Vielleicht werden Gefühle dann besonders deutlich, weil man in der Ruhe um die Festtage einfach viel Zeit zum Nachdenken hat. Vor zwei Jahren war ich traurig, weil meine Oma gerade gestorben war und das Fest ohne sie so anders aussah. Vor einem Jahr war ich verliebt und war deshalb so in Weihnachtsstimmung, weil ich mich umso mehr auf die Zeit danach freute. Dieses Jahr ist die Beziehung zerbrochen und ich habe mich gerade deswegen auf die Zeit mit meiner Familie gefreut. Auf Menschen, denen ich vertraue, die mir Halt geben und mich immer unterstützt haben. Beziehungen können kommen und gehen, Freundschaften auch, aber die Familie bleibt. Und mit ihr ein Ort, den man Zuhause nennt.
Über die Feiertage wird es einsam in der Stadt: Alle fahren
da hin, wo sie mal herkamen. Wo ihre Familie lebt und die alten
Freunde. Heimat. Wie es dort ist und was das für sie bedeutet, werden
Zuender-Autoren in den nächsten Tagen hier aufschreiben
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