Manchmal tut man Dinge, von denen man weiß, dass sie falsch sind. Aber trotzdem richtig. Aldous Huxley versteht das.
Von Carsten Lißmann
Mehr als ein Dutzend Leute haben an dieser Stelle
bereits über Bücher geschrieben
, die ihnen am Herzen liegen. Ist einem von euch aufgefallen, wie schwer es ist, über etwas zu schreiben, das einem aus unerfindlichen Gründen nahe steht? Ganz tief drin irgendetwas berührt hat? Wie oft habt ihr alles gelöscht und wieder von vorn begonnen? Ich jetzt vier Mal.
Das Problem ist, dass dieses Buch nichts mit mir zu tun hat. Es spielt im Nordamerika der Dreißigerjahre. Die Welt, die dort beschrieben wird, ist eine längst versunkene. Es geht um
puritanische
Erziehung, um Atomphysik und eine Familie, deren schwarze Haushälterin Beulah heißt. Keine dieser Erfahrungen habe ich je geteilt.
Und spätestens beim Klappentext hätte sowieso Schluss sein müssen. Dort wird der Autor,
Aldous Huxley
, als ironisch geistreicher Romancier bezeichnet, das Werk selbst als Kammerspiel über Sinnlichkeit und Geist, Natur und Moral. Die Krönung ist der Titel:
Das Genie und die Göttin
. Ich hätte dieses Buch niemals lesen dürfen. Aber die Welt ist voller Wunder.
Die Geschichte beginnt an einem Weihnachtsabend im Arbeitszimmer des alt gewordenen John Rivers. Er fängt an zu erzählen, streicht mit einer langen Geste über die Bücher in den Regalen hinter seinem Sessel und sagt gemeine Dinge über die dort versammelte Weisheit: ""Man gewöhnt sich quasi daran." Das sind fünfzig Prozent aller Tröstungen der Philosophie. Und das in fünf Worten."
Dann kommt er auf den anderen John Rivers zu sprechen. Den zwanzigjährigen Doktoranden der Physik und die Familie Maartens. Auf
das Genie
: Henry Maartens, Atomphysiker, brillant aber entrückt, nicht lebensfähig ohne –
die Göttin
. Seine Frau Katy.
Was stand im Klappentext – Sinnlichkeit und Moral? Ganz richtig. Und so kommt, was kommen muss. Eine Dreiecksbeziehung, aber eine voller Poesie. Vielleicht, weil sie in einer Zeit stattfindet, in der
Ficken
noch
Wollust
hieß. Der junge John Rivers, der Physiklehrling, der "Ehren-Maartens" liebt die Göttin glühend, vermeintlich platonisch – trotzdem landen sie dann in der Kiste. Natürlich beschreibt Huxley es anders: "Der Tag, an dem ich aus halbgebackener Blödigkeit als etwas annähernd Menschenähnliches hervorging."
Ehebruch. Aber ein guter. Denn nur die körperliche Liebe gibt Katy die Kraft, das Genie zu ertragen. Und das Genie kann nur leben, wenn Katy stark ist. Das klingt schön kompliziert. Zumal es eigentlich nicht um Ehebruch geht, nicht um Wollust und auch nur ein bisschen um Moral.
Es geht um Sachen, die man macht, obwohl sie falsch sind. Die man tut, obwohl eine Stimme einem sagt, dass man sie nicht tun sollte. Die trotzdem gut sind. Ich habe einige davon getan. Keinen Ehebruch, und auch nicht, was ihr jetzt denkt. Doch immer wieder gab es Situationen, wo jede Alternative die verkehrte war. Oder die richtige, je nachdem. Tu es, und du wirst es bereuen. Lass es sein, und es wird dir ein Leben lang leid tun. Falsch, falsch, falsch! Aber so richtig.
In solchen Lagen tauchten stets das Genie und die Göttin auf. Nicht, dass ich es wollte, sie waren einfach da. Das Buch lag plötzlich neben meinem Bett. Manchmal erst, als es mir schon längst leid tat, manchmal bevor überhaupt etwas geschehen war. Und obwohl die Göttin auf Seite 149 stirbt, hat es immer geholfen.
Warum, das kann ich nicht sagen. Und erst recht nicht beschreiben. Es blieb das diffuse Gefühl, dass am Ende alles gut ist wie es ist. Dass es nur Entscheidungen gibt, nicht richtige oder falsche. Und dass Dinge einfach passieren, ohne entschieden worden zu sein. "Das Fatale an Romanen", sagt John Rivers (der alte) im allerersten Absatz "ist, dass sie zuviel Sinn ergeben. Die Wirklichkeit ergibt nie einen Sinn."
Ich habe schon wieder Lust, alles zu löschen und diesen Text von vorn zu beginnen.