Hier beginnt die zufällige Verkettung von Ereignissen
Mit einem beiläufig auf dem Küchentisch drapierten Murakami-Roman kann man fast jedes Mädchen beeindrucken. Der japanische Bestsellerautor veröffentlicht in diesen Tagen sein neues Buch. Mit "Afterdark" will er die Sehnsüchte der riesigen Fangemeinde befriedigen
Von Stefanie Büther
Das Geheimnis von Haruki Murakami? Zum einen sind es seine Figuren. Die Helden seiner Geschichten sind unsicher und verwirrt, auf der Suche nach ihrem Platz im Leben und nach dem Sinn des Ganzen. Ewig-Jugendliche, selbst wenn sie das Alter eigentlich schon überschritten haben. Dann seine Stilsicherheit. Ganz beiläufig trifft Murakami den richtigen Ton und baut unverwechselbare Stimmungen auf. Aber das außergewöhnlichste an seinen Büchern ist der schmale Grat, der Rationales von Irrationalem trennt. Die Realität ist bei Murakami immer nur eine dünne Schicht, darunter liegen phantastische Welten. Der 16. Stock eines Luxushotels, wo sich die Realität unvermittelt auflöst in surreale Bilderwelten; der Wandschrank eines gesichtslosen Büros, hinter dem sich ein tiefer, dunkler Schacht auftut, ein reißender Fluss, ein Labor hinterm Wasserfall.
In "Afterdark", dem neuen Roman von Haruki Murakami, herrscht Zeichenwirrwarr. Er erzählt die Geschichte einer Nacht und die zweier ungleicher Schwestern. Eri, die Ältere und Schönere der beiden, liegt seit Monaten im Bett und schläft. Mari findet das verständlicherweise unheimlich, weshalb sie die Nächte lieber außer Haus verbringt. Die Zeit bis Sonnenaufgang schlägt die 19-Jährige in Fast-Food-Restaurants tot, und hier beginnt die zufällige Verkettung von Ereignissen und Begegnungen dieser Nacht. Eine junge chinesische Prostituierte wird in einem Stundenhotel von einem Freier zusammengeschlagen; die Chefin ebendieses Stundenhotels erzählt von ihrer Karriere als Profiboxerin. Mari trifft den Musiker Takahashi, und die beiden füttern Katzen im Park, während der brutale Freier das Handy der Chinesin im Supermarkt-Kühlregal versteckt. Dort liegt es neben dem Camembert und klingelt in dem Moment, als Takahashi gerade ein Thunfischsandwich kaufen will.
"Afterdark" ist gestrickt wie ein Episodenfilm, eine Nacht in Tokio blabla. So weit ganz schön, wäre da nicht die penetrante Erzählweise: "Die drei Frauen betreten das Büro des Hotels. An den Wänden sind Pappkartons gestapelt. Es gibt einen Stahlschreibtisch und eine einfache Sitzgruppe. Auf dem Schreibtisch stehen die Tastatur und der Flüssigkristallbildschirm eines Computers. An der Wand hängen ein Kalender, drei Rahmen mit Kalligraphien von Mitsuo Aida und eine elektrische Uhr. Einen tragbaren Fernseher gibt es auch, und auf einem kleinen Kühlschrank steht ein Elektrokocher." Alles klar?
Jede Szene beginnt mit einer exakten Regieanweisung; insgesamt liest sich "Afterdark" eher wie ein Drehbuch als wie ein Roman. Statt personaler oder allwissender Erzählweise führt Murakami hier eine neue Perspektive ein: die der Kamera. In der globalisierten Popkultur verliert das geschriebene Wort immer mehr an Stellenwert gegenüber dem bewegten Bild. Wo früher gelesen wurde, wird heute geguckt. Womöglich sieht der Autor sein filmisches Schreiben in "Afterdark" als Versuch, angesichts der Bilderfluten überhaupt noch zu schreiben – die Rettung der Literatur durch ihre multimediale Modernisierung.
Die Synthese von Literatur und Film wird allerdings schwierig, wenn der Autor die ureigene Stärke der Literatur ignoriert: Dinge definitiv zu benennen. So sieht die Kamera in "Afterdark" zwar jedes Detail der Raumeinrichtung, aber sie gibt den Dingen keine Bedeutung: "Mari zuckt leicht mit den Schultern. Wie du willst, könnte das heißen." Vieles in "Afterdark" bleibt offen und ungenau; vielleicht ist es so, wie es scheint, vielleicht aber auch ganz anders. Überall Symbole, die auf nichts verweisen. Bedeutungsschwangere Halbsätze, die eine Tiefgründigkeit suggerieren, die nirgendwo eingelöst wird: "Möglicherweise war das kein Zufall gewesen." Aha, aber was war es denn dann? So bleibt das Geheimnis des Romans letztlich unergründbar; vielleicht hat er auch einfach keines. Wer sein Mädchen wirklich beeindrucken möchte, sollte lieber zu "Wilde Schafsjagd" greifen. Oder zu "Sputnik Sweetheart" oder einem der anderen hinreißenden Murakami-Bücher.
Anzeige
Haruki Murakami: "Afterdark". Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont-Verlag 2005. 237 Seiten, 19,90 Euro.
Das Geheimnis von Haruki Murakami? Zum einen sind es seine Figuren. Die Helden seiner Geschichten sind unsicher und verwirrt, auf der Suche nach ihrem Platz im Leben und nach dem Sinn des Ganzen. Ewig-Jugendliche, selbst wenn sie das Alter eigentlich schon überschritten haben. Dann seine Stilsicherheit. Ganz beiläufig trifft Murakami den richtigen Ton und baut unverwechselbare Stimmungen auf. Aber das außergewöhnlichste an seinen Büchern ist der schmale Grat, der Rationales von Irrationalem trennt. Die Realität ist bei Murakami immer nur eine dünne Schicht, darunter liegen phantastische Welten. Der 16. Stock eines Luxushotels, wo sich die Realität unvermittelt auflöst in surreale Bilderwelten; der Wandschrank eines gesichtslosen Büros, hinter dem sich ein tiefer, dunkler Schacht auftut, ein reißender Fluss, ein Labor hinterm Wasserfall.
In "Afterdark", dem neuen Roman von Haruki Murakami, herrscht Zeichenwirrwarr. Er erzählt die Geschichte einer Nacht und die zweier ungleicher Schwestern. Eri, die Ältere und Schönere der beiden, liegt seit Monaten im Bett und schläft. Mari findet das verständlicherweise unheimlich, weshalb sie die Nächte lieber außer Haus verbringt. Die Zeit bis Sonnenaufgang schlägt die 19-Jährige in Fast-Food-Restaurants tot, und hier beginnt die zufällige Verkettung von Ereignissen und Begegnungen dieser Nacht. Eine junge chinesische Prostituierte wird in einem Stundenhotel von einem Freier zusammengeschlagen; die Chefin ebendieses Stundenhotels erzählt von ihrer Karriere als Profiboxerin. Mari trifft den Musiker Takahashi, und die beiden füttern Katzen im Park, während der brutale Freier das Handy der Chinesin im Supermarkt-Kühlregal versteckt. Dort liegt es neben dem Camembert und klingelt in dem Moment, als Takahashi gerade ein Thunfischsandwich kaufen will.
"Afterdark" ist gestrickt wie ein Episodenfilm, eine Nacht in Tokio blabla. So weit ganz schön, wäre da nicht die penetrante Erzählweise: "Die drei Frauen betreten das Büro des Hotels. An den Wänden sind Pappkartons gestapelt. Es gibt einen Stahlschreibtisch und eine einfache Sitzgruppe. Auf dem Schreibtisch stehen die Tastatur und der Flüssigkristallbildschirm eines Computers. An der Wand hängen ein Kalender, drei Rahmen mit Kalligraphien von Mitsuo Aida und eine elektrische Uhr. Einen tragbaren Fernseher gibt es auch, und auf einem kleinen Kühlschrank steht ein Elektrokocher." Alles klar?
Jede Szene beginnt mit einer exakten Regieanweisung; insgesamt liest sich "Afterdark" eher wie ein Drehbuch als wie ein Roman. Statt personaler oder allwissender Erzählweise führt Murakami hier eine neue Perspektive ein: die der Kamera. In der globalisierten Popkultur verliert das geschriebene Wort immer mehr an Stellenwert gegenüber dem bewegten Bild. Wo früher gelesen wurde, wird heute geguckt. Womöglich sieht der Autor sein filmisches Schreiben in "Afterdark" als Versuch, angesichts der Bilderfluten überhaupt noch zu schreiben – die Rettung der Literatur durch ihre multimediale Modernisierung.