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Reise

Das perfekte Hemd

TEIL 2

In der Nacht kam der Regen.

3

"Ich suche das perfekte Hemd", sage ich zu dem alten Mann und zeige ihm das Hemd aus Mahabalipuram.

Er prüft den Stoff, den Schnitt, die Verarbeitung.

"Es gibt bessere", sagt er.

"Wo?"

Er überlegt: "In Pondicherry vielleicht, die Uniformen seiner Polizisten sind untadelig, achten Sie nur einmal auf die Brusttaschen."

4

Besonders gut am Älterwerden ist, dass man sich erinnern kann, zum Beispiel an seine Sommerlieben – Menschen, denen man einmal sehr nahe stand, die man aber mittlerweile völlig aus den Augen verloren hat.

Deshalb hat sich ein Freund von mir vorgenommen, allen seinen fünf Sommerlieben zu schreiben, sobald er seit zehn Jahren nichts mehr von dem betreffenden Mädchen gehört hat.

Der letzte Brief ging vor ein paar Monaten nach Wien. "Ich habe noch ein Bild von dir", schrieb er einem Mädchen, das Manuela heißt, "und, wie ich hoffe, alle Briefe (zehn). Und weil ich kürzlich umzog, fiel mir das Bündel in die Hände, und ich erfuhr, dass du im September 1991 achtzehn wurdest. Und damit jetzt bald schon fünfunddreißig bist."

"Ich kann mich noch gut erinnern", schrieb mein Freund weiter: "Wir aßen zwei-, dreimal in diesem indischen Restaurant, und einmal, eines Abends, gingen wir einfach nicht mehr in unsere Schlafräume zurück, sondern machten uns auf, hielten uns an den Händen und wanderten im Dorf herum. Du erzähltest von deinem Freund, den du nicht mehr mochtest, und ich erfand wohl irgendein Mädchen, um dich zu beeindrucken. Später lagen wir dann in einem Wäldchen und küssten uns, während es immer kälter wurde. Und zuletzt liefen wir zusammen über einen Friedhof, wo ich die Gräber der im Zweiten Weltkrieg Gefallenen suchte."

"Jetzt sehe ich mir dein Bild an", fuhr mein Freund fort: "Du stehst vor dem Sockel einer Statue und trägst eine weiße Bluse, deine Augen sind groß und mandelförmig, darunter hat es bläuliche Schatten, darüber sind die Lider weiß, und um den Hals hast du eine Kette mit deinem Namen drauf. Bevor ich es vergesse: Vor drei Jahren war ich in Wien, wo ich eine Woche in Kaffeehäusern saß und Zeitung las. Einmal habe ich dich sogar im Telefonbuch gesucht und auch gefunden – oder war das der Eintrag deiner Eltern?"

"Liebe Manuela, was ist aus dir geworden?" schloss mein Freund seinen Brief: "Solltest du je in der Nähe sein, dann ruf mich bitte an. Und wenn es dir nichts ausmacht, dann gehen wir fein essen. Vielleicht sogar zu einem Inder?"

Drei Wochen später kam Manuelas Antwort: Sie sei die Sekretärin der Geschäftsleitung einer Pharmafirma, schrieb sie, und habe einen "lieben Freund". Nächstes Jahr werde er mit dem Studium der Betriebswirtschaftslehre fertig, und nebenbei arbeite er bei IBM.

Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass sich mein Freund in jenem Sommer in das falsche Mädchen verliebt hatte.

5

Auf der Straße nach Pondicherry trennen die Frauen die Spreu vom Weizen, zumindest sieht es so aus, und die Männer gewinnen Salz, auch das glaube ich zu erkennen.

In der Stadt angekommen, sehe ich eine Greisin, die sich die Zähne mit den Fingern putzt, ein kleiner Junge hat einen Fuß wie eine Faust, statt zu betteln liegen die Ärmsten nur am Boden, die Luft ist Blei und Staub und Sandelholz.

Ich gehe zum erstbesten Schneider, suche den Stoff aus und lasse Maß nehmen, dann setze ich meine Sonnenbrille auf, obwohl es schon wieder Nacht ist, und laufe in den Straßen herum.

Ein Mädchen wird gelaust und lacht mich an, ein Händler wirft seine Ware in die Luft, aus umgedrehten Regenschirmen werden Unterhosen und von Fahrrädern T-Shirts verkauft, alle paar Meter hält sich jemand ein Nasenloch zu und rotzt.

Ich trinke Mirinda, das Getränk meiner ersten Auslandferien, ich trinke eine Cashewnuss-Milch, ich trinke Kaffee mit viel, viel Zucker, danach ein Kingfisher-Bier und noch eins und noch eins, ich trinke einen indischen Brandy, ich stelle fest, dass sich die Männer hier alle Koteletten wachsen lassen, ich möchte einer schönen Inderin den Nacken küssen, ich merke, wie ich mir andauernd mit der rechten Faust in die linke Hand schlage, plötzlich sehe ich einen anderen Weißen auf mich zukommen, obwohl die Inder ja nicht wirklich schwarz sind, er sieht aus wie Jack Kerouac, für einen Moment könnte ich ihn umbringen, doch dann spricht mich ein japanischer Hippie an.

"Woher bist du?"

"Aus der Schweiz."

"Bist du auf der Suche nach dem perfekten Tag?"

Weiterlesen im 3. Teil »


 
 



 

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