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Baltikum

Ausgesperrt im eigenen Land

TEIL 2

Die Blumen für Aljoscha werden zum Wahlkampfthema

„Gehen Sie doch gleich zu Putin! Ich rede nicht mit Ihnen”, sagt Marju Lauristin am Telefon, als sie erfährt, dass wir mit Dmitri Linter gesprochen haben. Der sei ein professioneller Lügner, ein Extremist, der seine Anweisungen direkt aus Moskau erhalte. Niemals würde sie sich mit Linter in einem Raum aufhalten. Am Ende lädt die Professorin für Soziale Kommunikation uns doch zu einem Gespräch in die Universitätsstadt Tartu ein.

In ihrem Büro ist die Schärfe aus der Stimme der 68-Jährigen gewichen. Sie versucht, uns den Konflikt, der sich hinter den Ereignissen im April des vorigen Jahres verbirgt, zu erklären. Der Streit um das Denkmal nahm seinen Anfang 2005. Russland feierte in Moskau den 60. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland, doch die Präsidenten Estlands und Litauens blieben der Zeremonie fern. Ihre Begründung: erst wenn Russland seine Interpretion der Nachkriegsgeschichte aufgebe, der zufolge sich die baltischen Staaten nach dem Sieg über Hitlers Wehrmacht freiwillig der Sowjetunion angeschlossen hätten, gäbe es einen Grund zum Feiern. Der wahre Grund für die Auseinandersetzungen liegt also noch viel tiefer in der Geschichte vergraben. Armer Aljoscha.

Marju Lauristin sagt, seit dem Eklat von 2005 hätte es plötzlich politische Aktivitäten rund um das fast vergessene Denkmal gegeben. Wie zu sowjetischen Zeiten mussten russische Schulkinder beispielsweise Blumen an seinem Sockel ablegen.

Um dieser Politisierung entgegenzuwirken, diskutierte die estnische Regierung über eine Umgestaltung des Platzes vor der Nationalbibliothek. Doch diese Pläne heizten den Konflikt erst richtig an: zahlreiche Parteien nutzten das Thema, um im Wahlkampf auf Stimmenfang zu gehen. Sie sprachen besonders viele ältere Esten an, denen die Angst, wieder zur Minderheit im eigenen Land zu werden, tief im Bewusstsein sitzt.

Nach der Wahl musste dann alles ganz schnell gehen. Aljoscha sollte über Nacht an seinen neuen Platz befördert werden, es kam zu Krawallen und Auseinandersetzungen zwischen Gegnern der Verlegung und der überforderten Polizei. Mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen gingen die Sicherheitskräfte gegen die außer Kontrolle geratene Menge vor.

Russland instrumentalisiert die russische Minderheit

Probleme mit der russischen Minderheit in Estland gebe es in anderen europäischen Ländern auch, sagte Marju Lauristin: „Viele Russen isolieren sich sehr stark. Sie bleiben in ihren Ghettos, haben keinen Kontakt zu Esten, schauen nur russisches Fernsehen“. Die Besonderheit in den baltischen Staaten sei, dass der russische Staat diese ablehnende Haltung unterstütze. Russlands Politiker hätten ein Interesse daran, die baltischen Russen von der Mitgestaltung ihrer neuen Heimat fernzuhalten.

Tatsächlich instrumentalisiert Russland die Minderheit gerne, um zu testen, wieviel Rückhalt die ehemaligen Sowjetrepubliken im Baltikum bei ihren europäischen Partnern haben. Im April vergangenen Jahres wurde zum Beispiel das Gerücht gestreut, die Statue Aljoschas sei in Stücke geteilt worden.

„Solche Falschmeldungen halten sich lange, weil besonders in Ostestland viele Russen nur die Nachrichten in ihrer Muttersprache verfolgen”, sagt Ken Koort. Der ehemalige Politiker, der im vergangenen Jahr als Vertreter des estnischen Bevölkerungsministeriums an der Grenze zu Russland arbeitete, weiß um die Probleme der russischen Minderheit.

Integration sei ein langwieriger Prozess, der von zwei Seiten ausgehen müsse: „Ich kann niemanden zwingen, Este zu sein, wenn er das gar nicht will”, sagt der 29-Jährige.

Zum Glück sei Estland ein kleines Land. Dass die Gesamtbevölkerung kaum mehr als eine Million Menschen ausmache, erleichert Koort zufolge die Integrationsbemühungen der Regierung: Die Anzahl der in estnischer Sprache unterrichteten Schulfächer soll stetig wachsen, die finanziellen Mittel für die Integration der Minderheit wurden verdoppelt. Nicht nur die Sprache, auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder die politische Teilhabe der Russen sollen systematisch verbessert werden.

Der Schüler Roman Kornilov schämte sich damals, als er die Unruhen auf Tallinns Straßen im Fernsehen verfolgte: „Das hat ein so schlechtes Bild auf die Russen geworfen.“ Dabei habe er nie das Gefühl gehabt, als Russe das Denkmal verteidigen zu müssen. „Ich möchte das Land, in dem ich lebe, mitgestalten und dabei spielt es keine Rolle, woher ich stamme.“ Vor kurzem hat Roman darum alle Lehrer seiner russischen Schule zu einem Seminar eingeladen und eine Rede über Toleranz und Multikulturalismus gaben. Er gab damit nur weiter, was er in einem Ferienkurs gelernt hatte: „Dass Unterschiede verbinden“.

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