Der Europäische Tag gegen die Todesstrafe ist am Veto Polens gescheitert. 70 Prozent der Polen befürworten sie. Doch auch bei uns ist die Forderung „Rübe ab!“ längst keine Randerscheinung.
Eine Spurensuche von Carsten Lißmann
Gibt es etwas, das Europa wirklich eint? Es könnte die Ablehnung der Todesstrafe sein. Von Gibraltar bis Sibirien gibt es kein Land mehr, in dem der Staat sich das Recht nimmt, Menschen zu töten um sie zu bestrafen – mit Ausnahme Weißrusslands. In allen 47 Mitgliedsstaaten des
Europarates
ist die Todesstrafe entweder abgeschafft oder wird zumindest nicht mehr vollstreckt. Auf diese „todesstrafenfreie Zone“ ist der
Europarat mit Recht stolz
.
Aber dieses schöne Bild bekommt Risse, sobald man ein wenig ins Detail geht: Am 10. Oktober begeht Europa in diesem Jahr zum ersten Mal den Europäischen Tag gegen die Todesstrafe – mit Europa ist hier nicht die EU gemeint. Dort ist die Einführung nämlich am
Veto Polens
gescheitert. Ja, Polen – schon wieder.
Im Sommer dieses Jahres, als die polnische Regierung ihren Widerspruch öffentlichtkeitswirksam anmeldete, befand sich das Land in einer Regierungkrise an. Am 21. Oktober wird Polen nun ein neues Parlament wählen. Reine Wahlkampftaktik also: Mit ihrer Blockade auf europäischer Ebene will die Regierungspartei von Jaroslaw Kaczynski innenpolitisch auf Stimmenfang gehen.
Tatsächlich ist Polen das Land mit der höchsten Zustimmung zur Todesstrafe in der EU. Je nach Umfrage befürworten zwischen 60 und 80 Prozent der Bürger des Landes ihre Wiedereinführung in Polen. Überraschenderweise sind das nicht nur die Alten und Rechten: Im Gegenteil. Die meisten Befürworter der Todesstrafe finden sich bei den Linken und Demokraten (LiD). Nicht die alten, sondern die jungen Menschen im Alter von 25 bis 44 Jahren sind mehrheitlich für die Todesstrafe. Unter den 18- bis 24jährigen sagen 58 Prozent, dass es in Polen die Todesstrafe für Schwerstverbrechen geben sollte.
Diese Zahlen erschrecken – auch wenn man in Betracht zieht, dass dies politisch nicht durchsetzbar wäre und mit dem Rauswurf Polens aus der EU verbunden wäre.
Aber warum denken so viele Menschen so? In dieser Frage sind Soziologen einigermaßen ratlos. „Ziemlich schwierig“, sagt Dr. Bernadette Jonda, eine Soziologin, die an der Martin-Luther-Universität in Halle lehrt. Sie führt vor allem spektakuläre Morde und Gewalttaten an, über die in den polnischen Medien immer wieder berichtet wird. Eine gefühlte Bedrohung also, die mit einem diffusen Gefühl zusammenfällt, dass der Staat zu wenig für den Schutz der Bevölkerung tut. Hinzu käme mangelnde Bildung: Wer nicht über Möglichkeiten der Resozialisierung von Straftätern informiert ist, würde im Zweifel für die drakonische Option plädieren.
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Andere Wissenschaftler führen das Wirken der katholischen Kirche an, die zwar spätestens seit einer Enzyklika des damaligen Papstes Johannes Paul II. im Jahr 1995 offiziell gegen die Todesstrafe ist – sich vom Diktum des Alten Testaments („Auge um Auge, Zahn um Zahn“) gleichwohl nicht befreien kann.
Für die Juristin Agata Fijalkowski hat die polnische Haltung auch mit dem „direkten und indirekten Vermächtnis des Kommunismus“ zu tun. Vielleicht hilft es also, einen Blick auf diejenigen Länder zu werfen, die ebenfalls mit diesem Erbe zu kämpfen haben. Die nackten Zahlen ergeben ein gemischtes Bild: Tschechien und die Slowakei schafften die Todesstrafe 1990 ab, Rumanien sogar schon 1989 (freilich erst, nachdem der kommunistische Diktator Nicolae Ceauşescu und seine Frau nach einem Blitzverfahren hingerichtet worden waren). Polen folgte ziemlich spät: Im Jahr 1997 wurde mit einer Verfassungsänderung die Todesstrafe abgeschafft, in Lettland geschah dies ein Jahr später. Und erst im Jahr 2000 schloss sich auch die Ukraine an.
Kurz vor der EU-Erweiterung im Jahr 2004 befragte die Europäische Kommission im Rahmen der Studie
Eurobarometer
Jugendliche in den Beitrittsstaaten zu ihrer Haltung zur Todesstrafe. Abgefragt wurde damals nicht die eigene Meinung, sondern die soziale Erwünschtheit der Todesstrafe: „Glaubst Du, dass Jugendliche in Deinem Alter eher für oder eher gegen die Todesstrafe sind?“ Nur in Polen gab es eine knappe Mehrheit (52 Prozent) für die Antwort „Dafür“, doch gleich darauf folgen Litauen und Ungarn (je 47 Prozent), die Slowakei (44 Prozent), Lettland (41 Prozent) und die tschechische Republik (40 Prozent). Rumänien und Slowenien fielen mit jeweils knapp 20 Prozent aus dem Rahmen.
Zum Vergleich: In den 15 Ländern der alten EU glaubten insgesamt 27 Prozent der Befragten, dass ihre Altersgenossen für die Todesstrafe sind.
Und wie sieht es in Deutschland aus? Auch hierzulande gibt es schließlich Parteien, die die Wiedereinführung der Todesstrafe fordern: Die NPD, die in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen in den Landtagen sitzt und die DVU, im Brandenburger Parlament ebenfalls in Fraktionsstärke vertreten.
In keiner soziologischen Studie wird die Haltung deutscher Jugendlicher zur Todesstrafe erfasst. In der größten Untersuchung über die Orientierungen und Werte von jungen Menschen, der
Shell-Jugendstudie
, gibt es keine entsprechende Frage. Auch eine Recherche des
Deutschen Instituts für Menschenrechte
brachte keine Ergebnisse.
Lediglich das Allensbach-Institut befragt die Deutschen seit 1950 nach ihrer Einstellung zur Todesstrafe (
PDF-Dokument
). Demnach ist die Zustimmung in den Jahren bis 1973 stetig gesunken, doch schon im
„Terrorjahr“ 1977
waren die Befürworter wieder in der Mehrheit. Im Jahr 2000 war dieser Wert wieder auf 23 Prozent gesunken. Das Problem ist nur: Das gilt nur in Westdeutschland.
Im Osten waren die Meinungen im Jahr 2000 ausgeglichen – 39 Prozent wollten die Todesstrafe, 37 Prozent waren dagegen. Und noch vor knapp zehn Jahren, 1996, wollten 45 Prozent der Ostdeutschen die Todesstrafe wieder einführen. Das sind fast polnische Verhältnisse.
Das gute alte „Kopf ab!“ ist also auch bei uns nicht aus der Mode gekommen. Im April dieses Jahres
fragten die Schüler einer norddeutschen Schule
ihre Altersgenossen zu diesem Thema: 85 Prozent würden demnach die Einführung der Todesstrafe in Deutschland begrüßen.
Der Tübinger Jura-Professor Jörg Kinzig befragte in den vergangenen zwei Semestern Studenten seiner Fakultät über ihre kriminalpolitischen Vorstellungen. Fast ein Fünftel sprach sich dafür aus, die Todesstrafe für ausgewählte Delikte wieder einzuführen (Männer: 16, Frauen 22 Prozent).
„Auch wenn sich damit unter den Tübinger Jurastudierenden mehr entschiedene Gegner einer solchen Sanktion als in der Allgemeinbevölkerung finden dürften, schmerzt es mich persönlich, dass trotz begonnener oder gar fortgeschrittener juristischer Ausbildung noch ein Fünftel bis ein Viertel diese Sanktion für diskutabel hält“, sagt Kinzig.
Was also eint Europa wirklich? Vermutlich ist es die „langsame, aber stetige Entwicklung hin zu einer immer höher entwickelten Gesellschaft“, wie es Terry Davis, der Generalsekretär des Europarates, ausdrückt. Langsam und wacklig, hätte er auch sagen können. Denn so sicher, wie die europäischen Politiker glauben, ist die Ablehnung der Todesstrafe in der Bevölkerung bestimmt nicht. Populisten wie der polnische Premierminister Jaroslaw Kaczynski machen sich nur zum Sprachrohr einer weitverbreiteten Haltung.