Todesstrafe
Warten auf den Tod
Juan Melendez saß 18 Jahre lang unschuldig in der Todeszelle. Nach seiner unerwarteten Entlassung ging der Kampf ums Überleben weiter
Von Jahel Mielke
Juan Melendez ist klein und stämmig. Seinen Vortrag in der Kölner Volkshochschule hält er im Stehen, spricht mit starkem spanischem Akzent, laut und eindringlich. Die Zeit hat tiefe Falten in das Gesicht des 54-Jährigen gegraben. "Es war ein schöner Maitag in Pennsylvania. Ich aß unter einem Apfelbaum zu Mittag, als die FBI-Agenten aus ihren Wagen sprangen und ihre Waffen zückten", beschreibt Melendez den Tag im Jahre 1984, der ihm fast 20 Jahre seines Lebens stahl.
Als Erntehelfer war er aus Puerto Rico gekommen, auf der Suche nach einem besseren Leben. Er sprach kaum ein Wort Englisch, als man ihn verhaftete. Einen weißen Mann sollte er erschossen und ausgeraubt haben. Der Täter hatte angeblich eine Zahnlücke und eine Tätowierung, genau wie Melendez. Und zwei Kronzeugen gab es, beide vorbestraft. Einen Dolmetscher bekam er nicht, der Pflichtverteidiger klopfte ihm auf die Schulter und versprach: "Bald wirst du nach Hause gehen." Nach nur fünf Tagen war die fast ausschließlich weiße Jury sich einig: Tod durch den elektrischen Stuhl. Melendez bezog seine Zelle, die Ratten waren schon vor ihm da. Er begann, sich vor dem Tod zu fürchten. "Ich dachte jeden Tag, dass sie heute kommen, um mich zu töten", sagt Melendez. Jedes Mal, wenn ein anderer Häftling an der Reihe war, flackerte in der Zelle das elektrische Licht. "Es war so", sagt Melendez, "als wäre man dabei."
Nach zehn Jahren Warten war Melendez, der sich selber als Kämpfer beschreibt, am Ende. "Ich hatte beschlossen, mich umzubringen", sagt er. Beim Reinigungsdienst tausche er vier Briefmarken gegen eine Plastiktüte ein. Dass er sich daraus dann doch keinen Strick gedreht hat, dass er lebt, habe er den Träumen von seiner Kindheit zu verdanken, erzählt er, den unermüdlichen Briefen seiner Mutter und seiner Tanten. Und seinen Mitgefangenen. Über Spiegel und Zettel brachten sie ihm Englisch bei, um ihm seine Hilflosigkeit zu nehmen. Und schließlich, sagt Melendez, sei er irgendwann sicher gewesen, dass Gott ihm helfen würde.
Drei Gnadengesuche hatte der Staat Florida schon abgelehnt, als sein Fall in den Distrikt von Richterin Barbara Fleischer verlegt wurde. Sie forderte die Prozess-Unterlagen an, fand zwischen den Akten eine Kassette – und hörte das Geständnis des tatsächlichen Mörders, das von 16 Zeugen belegt war. Diesen Beweis hatte die Staatsanwaltschaft 18 Jahre zuvor unterschlagen. Als er zum ersten Mal ohne Fesseln und Handschellen den Gang im Gefängnis durchquerte, begannen seine Mitgefangenen zu klatschen. Der Beifall begleitete ihn in die Freiheit. Seine Wünsche nach der Entlassung: auf Gras laufen, die Sterne sehen und den Mond.
Melendez wirkt erschöpft. Nach über zwei Stunden Vortrag in dem überfüllten Raum ist er fahrig, will nach Hause. Auf die Frage, warum er durch Europa reist und seine Geschichte erzählt, antwortet er nur knapp: "Ich tue es aus Verpflichtung für meine Freunde und weil ich die Todesstrafe ablehne." Seine Zeit verbringt er abwechselnd in Puerto Rico oder New Mexiko bei der Anwältin Judi Caruso. Sie lernte ihn bei einem seiner Vorträge kennen und war beeindruckt von seiner Geschichte. Gemeinsam gründeten sie die Organisation "Voices United for Justice", die sich um freigelassene Todeskandidaten kümmert. Caruso organisiert nicht nur Melendez’ Arbeit, sie hilft ihm auch, sein Leben zu meistern. "Wie die meisten hat er die Erfahrungen aus der Zelle kaum verarbeitet", sagt Caruso. Über seine Vorträge, Spenden und Feldarbeit finanziert Melendez seinen Lebensunterhalt. Vom Staat Florida hat er keinen Cent Entschädigung erhalten.
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