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Indisches Kastenwesen

Jeder bekommt was er verdient

Indien ist ein moderner aufstrebender Staat. Doch noch immer leben die Menschen dort in einem System, das sie in niedere und höhere Wesen einteilt.

"Passende Ehefrau für unseren Sohn gesucht. Brahmane, Ingenieur, 32, Einkommen 300.000 Rupien, alle oberen Kasten willkommen." – so steht es im Anzeigenteil einer indischen Tageszeitung unter der Überschrift Heiratsgesuche.

Eigentlich ist nichts an dieser Anzeige ungewöhnlich, wäre da nicht das Wort Brahmane, die Angabe der Kaste. Das Kastenwesen, die Einteilung der Menschen in eine Vielzahl von hohen und niederen Klassen, hat die indische Gesellschaft noch vor wenigen Jahrzehnten vollständig bestimmt. Inzwischen sind die sozialen Grenzen durchlässiger geworden, vor allem in den großen Städten des Landes. Doch in vielen Bereichen, zum Beispiel der Berufswahl oder wenn es ums Heiraten geht, hat die Zugehörigkeit zu einer Kaste noch immer großen Einfluss auf das Leben jedes Einzelnen.

Saddanand spricht kaum Englisch. Aber das macht nichts, man versteht ihn auch so, wenn er von seinem Alltag erzählt. "No money!" sagt er schulterzuckend und lächelt dabei wie jemand, dem das eigentlich egal ist. Es ist 11 Uhr abends, Saddanand hat gerade die Besucher seines Chefs nach Hause gefahren. Mit etwas Glück bekommt er noch zwei Stunden Schlaf, bevor er uns zum Flughafen bringen muss. So ist es fast immer. Saddanand ist Aushilfe in einer Hilfsorganisation in Visakhapatnam an der Ostküste Indiens. Er kutschiert Leute herum, wäscht die Autos, schleppt Wasserkanister, kocht Tee und ist praktisch rund um die Uhr abrufbereit. Manchmal sieht er seine Frau tagelang nicht. Aber er beschwert sich nicht.

"Very hard work!" sagt er statt dessen, hebt die Hände und deutet zum Himmel. Dann greift er sich an die Stirn, schüttelt den Kopf und verzieht das Gesicht, als wollte er sagen: "Arbeit mit dem Kopf ist eben nichts für mich". Saddanand meint das nicht sarkastisch.

Er ist einer derjenigen, die am Rand des indischen Gesellschaftssystems leben, die in keine der vier Kasten hineingeboren wurden und darum in der Hierarchie ganz unten stehen. Kastenlose, so der Volksglaube, haben in einem früheren Leben schwere Sünden begangen und wurden mit der Wiedergeburt als unreiner Mensch bestraft. Die Kastenlosen versehen die niederen Tätigkeiten. Sie sind es, die den Müll von der Straße räumen und die Toten verbrennen müssen.

Noch immer hat es in Indien manchmal schwerere Konsequenzen, eine heilige Kuh zu überfahren, als einen Kastenlosen. "Jeder bekommt was er verdient," heißt es in alten hinduistischen Schriften. Viele Inder haben das Prinzip von Herrscher und Diener so sehr verinnerlicht, dass sie die Ungerechtigkeit des Systems gar nicht wahrnehmen. Ein Kastenloser wird nur im äußersten Notfall einem Brahmanen widersprechen, denn jeder vertraut darauf, dass dieser sowieso gebildeter und klüger ist und daher die besseren Entscheidungen trifft.

Die Brahmanen stehen an der Spitze der Hierarchiepyramide. Sie stellen die Mehrheit der politischen, intellektuellen und religiösen Elite des Landes, da ihnen die alten hinduistischen Schriften neben tiefem Glauben und Weisheit auch absolute Reinheit nachsagen.

Und ein großer Teil der Lebensgewohnheiten der Brahmanen gilt einzig und allein der Aufrechterhaltung dieser Reinheit. Ihnen gelten Fleisch, Alkohol und andere Genussmittel als verpönt. Außerdem vermeidet es ein guter Brahmane, mit Angehörigen niederer Kasten seine Mahlzeiten einzunehmen. Und von Kastenlosen wie Saddanand wird erwartet, dass sie ihren Reis zurückgezogen auf dem Küchenboden oder unter freiem Himmel essen.

Kaum besser geht es den Shudras, den Angehörigen der untersten Kaste, die vor allem den Angehörigen der oberen Kasten dienen. Zum Beispiel, indem sie für einen Hungerlohn auf den Feldern der Grundbesitzer arbeiten – während diese riesige Gewinne einfahren. Die kleinen Geschäfte, in denen man Kekse und Reis kaufen kann, werden dagegen meist von Vaishyas betrieben, den Angehörigen der Händlerkaste, während die Kshatriyas (Krieger- und Beamtenkaste) die undurchschaubare indische Bürokratie und den riesigen Verwaltungsapparat aufrecht erhalten und ihre Söhne zum Militär schicken.

Nicht nur den oberen Kasten ist ein Bruch mit den Konventionen des Kastensystems unangenehm. Als wir Saddanand einladen, mit uns in ein Restaurant zu kommen, lehnt er schüchtern ab. Dies ist nicht seine Welt. Sogar die Sprache der Kasten unterscheidet sich deutlich – ihre Mitglieder verstehen sich zwar, benutzen aber unterschiedliche Dialekte.

Seit Jahrzehnten wird versucht, die Auswirkungen des Kastenwesens abzumildern. Politiker wie der indische Übervater Mahatma Ghandi (der selbst der niederen Kaste der Vaishya angehörte) haben viel dafür getan . Den Kastenlosen sind beispielsweise nach einem Quotensystem Parlamentssitze und Studienplätze vorbehalten. Dennoch sind Kastenlose, die Arzt oder Anwalt werden, die Ausnahme; die für sie reservierten Plätze an den Hochschulen bleiben oft unbesetzt.

Dies hat mehrere Gründe: Zum einen wollen viele Inder nicht mit ihrer Familientradition brechen. Viele führen die Arbeit, die ihre Familie schon seit Generationen ausübt, weiter. Zweitens leben die meisten Kastenlosen am Existenzminimum – sie sind gezwungen, ihre Kinder schon früh an der Arbeit auf dem Feld oder dem Betteln zu beteiligen, für Bildung bleibt keine Zeit.

Und paradoxerweise hat die Modernisierung Indiens viele staatliche Maßnahmen gegen das Kastensystem wieder zunichte gemacht. Zwar führte die indische Regierung die so genannte positive discrimination ein und sicherte damit den backward classes den benachteiligten Schichten, 27 Prozent der Arbeitsplätze in Staatsbetrieben und Behörden zu. Gleichzeitig wurde jedoch ein Großteil der staatlichen Firmen privatisiert. An deren Spitze sitzen nun Manager die lieber die "Reinen" und "Weisen" einstellen als die von Gott weniger Geliebten.

Nur die jüngere Generation in den aufstrebenden Metropolen geht mit der Kastenfrage toleranter um: "Klar esse ich Fleisch und trinke ab und zu mal ein Bier, auch wenn meine Kastenzugehörigkeit das eigentlich verbietet", sagt Ajay ein 23-jähriger Brahmane aus Visakhapatnam. "Wenn meine Eltern das wüssten, würden sie mich rauswerfen um die Familienehre zu retten." Ajay kommt gerade aus dem Kino, wo er sich einen neuen Film mit Bruce Willis angesehen hat.

Dieses neue Freiheitsgefühl beschränkt sich aber vor allem auf jene jungen Inder, die aus reichen und angesehenen Familien stammen, die Verwandtschaft in Boston oder London haben und die es sich leisten können, in Jeans und Nike-Turnschuhen herumzulaufen. Schnelle Autos, Romanzen aus Holly- und Bollywood und berufliche Erfolge lösen die verstaubten hinduistischen Schriften als gesellschaftliches Ideal ab.

Doch bis Ajay und die anderen Angehörigen der hohen Kasten ihren Chauffeuren und Dienstmädchen die gleiche Freiheit zugestehen, wird es noch dauern.

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