In der indischen Stadt Visakhapatnam soll ein neues Stadtparlament gewählt werden. Der Wahlkampf ist vor allem bunt – und Stimmen werden nicht nur mit Geld gekauft.
Von Robin Rieprich
Sie ist schon von Weitem zu hören, eine kratzige Stimme, die sich streng und bestimmt an die Passanten wendet. Eine dreirädrige, knallgelbe Autorikscha mit einem riesigen Megafon auf dem Dach bahnt sich ihren Weg durch die Menschenmassen im Zentrum der ostindischen Hafenstadt Visakhapatnam. Die Stimme wird lauter, unterbrochen wird sie von kitschiger Popmusik. Die Menschen um sie herum winken entweder euphorisch oder wenden sich entnervt ab. Ist etwa Karneval in Indien? Fast, es ist Wahlkampf.
Gut eine Million Bürger sind aufgerufen, den neuen Bürgermeister und die Mitglieder der “Municipal Corporation”, des Stadtparlaments, zu bestimmen. Vier Parteien treten zur Wahl an: Die Kommunisten, die Marxisten, die Telugu-Desam-Partei (die einst von einem Kinostar gegründet wurde) und die Kongresspartei. Die Congress Party dominiert seit Jahren das Parlament, sie ist die Partei des
Mahatma Gandhi
.
Zu verändern gibt es vieles. Visakhapatnam, früher ein Fischerdorf, ist in den letzten Jahrzehnten zur Industriestadt aufgestiegen. Die neu entstandenen Fabriken und die Aussicht auf einen Arbeitsplatz haben die Einwohnerzahl der Stadt innerhalb von 30 Jahren mehr als verdoppelt. Doch die Entwicklung stellt die Stadt vor Probleme. Die Slums sprießen wie Pilze aus dem Boden, die Infrastruktur ist hoffnungslos überlastet. Die Straßen sind verstopft und vermüllt, längst nicht alle Wohnviertel können ausreichend mit Wasser und Elektrizität versorgt werden. “Die Wirtschaft geht vor, um die einfachen Bürger kümmert man sich nicht.” So wie Chandra Khan, ein junger Wäscher, denken hier viele.
Telugu Dessam und Congress, die beiden großen Parteien, gehen in ihrem Wahlprogramm darum hauptsächlich auf die Stadtentwicklung ein, wobei Erstere sich vor allem als Anwalt der Unter– und Mittelschicht sieht und kostenlose Versorgung mit Trinkwasser und gerechtere Steuern fordert. Die Kongresspartei hingegen verspricht, das Straßennetz, das Abwassersystem und den Flughafen auszubauen. Beide Parteien haben ein weiteres Problem: Viele glauben ihnen nicht.
Die größte Demokratie der Welt ist käuflich. Das gilt nicht nur für die Politiker, die sich oft genug von großen Firmen ihr geringes Gehalt aufbessern lassen. Auch die Wähler sind bestechlich.
“Die parteilosen Kandidaten werden kaum eine Chance haben, weil die großen Parteien es sich leisten können, die Wähler mit Geld und Alkohol zu beeinflussen”, sagt Manam Anjaneyulu, der örtliche Chef der Kommunistischen Partei. Tatsächlich werden am Tag vor der Wahl insgesamt 15.000 Flaschen Whisky, Likör und selbstgebrannte Alkoholika von der Polizei beschlagnahmt. Sie sollten von Sympathisanten der Parteien unter die Leute gebracht werden. Gerade die wenig gebildeten Schichten der indischen Gesellschaft kann man mit großen Partys besser erreichen als mit Worten. Auch die scheinbar Parteitreuen, die sich jubelnd mit den Parteifahnen auf ihr Motorrad setzen, tun dies oft nicht aus Überzeugung: “Die Parteien zahlen 100 Rupees (knapp 2 Euro) pro Tag”, sagt Rao Babu, der in Visakhapatnam Informatik studiert. “Einige meiner Freunde sind in der letzten Woche sowohl für die TDP als auch für die Kongresspartei gefahren, um sich etwas dazuzuverdienen.”
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Die meisten Frauen halten sich im Wahlkampf zurück. Zu den traditionellen Ansichten, die die meisten Familien im konservativen Osten Indiens vertreten, gehört auch, dass Politik Männersache ist. Die wenigen weiblichen Parlamentarierinnen seien oft nur Handpuppen ihrer Ehemänner, beklagt sich Bhanumathi Kalluri, eine der wenigen politisch aktiven Frauen in Visakhapatnam. Sie erzählt von der Ehefrau des örtlichen Kandidaten der Kongresspartei, die vormittags von Haus zu Haus ziehe, um Wahlkampf der etwas anderen Art zu machen. “Sie verpasst den Hausfrauen einen Bindi, einen roten Punkt, auf die Stirn und bittet die Dame des Hauses, doch für ihren Mann zu stimmen.”
Von Politik ist bei diesen kuriosen Treffen nicht weiter die Rede. Man spricht über die Nachbarn und das Wetter. Politische Fragen überlässt die durchschnittliche Frau hier lieber ihrem Mann.
Am Tag der Wahl haben die Wahlleiter schon frühmorgens begonnen, rote Plastikstühle und Klapptische aufzustellen. Auf ihnen liegen riesige Papierstapel: Die Wählerlisten. Ab neun Uhr, die Wahllokale sind bereits seit zwei Stunden geöffnet, wird die Hitze unerträglich, wie immer um diese Jahreszeit. Der gelassenen Stimmung vor den Urnen tut das keinen Abbruch. Nur einmal erhitzen sich die Gemüter, als zwei Kandidaten verschiedener Parteien gleichzeitig eintreffen und sich darüber streiten, wer zuerst seine Stimme abgeben darf. Doch auch diese Konfrontation kann schließlich durch die Intervention eines anwesenden Polizeibeamten geschlichtet werden. Er steht schwer bewaffnet im Wahllokal. Nur wenige Meter entfernt versuchen Männer, die sich als Parteifunktionäre zu erkennen geben, Wähler für ihre Partei zu gewinnen. Ob sie gekauft oder überzeugt sind, weiß niemand.
Bemerkenswerterweise macht vor allem die Mittelklasse und Oberschicht Indien von ihrem Wahlrecht wenig Gebrauch. So auch bei dieser Wahl. In den ärmeren Gegenden der Stadt, dort, wo die Straßen eng und dreckig sind, haben die meisten einen braunen Tintenklecks am linken Zeigefinger, das Zeichen dafür, dass die Stimme abgegeben wurde. “Die Reichen machen lieber einen Ausflug mit ihrer Familie, als wählen zu gehen”, sagt Ramesh Krishna, ein Fischer aus einem der Slums in der Nähe des Hafens. “Wozu auch, ihnen geht es ja nicht schlecht.”
Einige Tage später sind die Stimmen ausgezählt. Kurz vor der Verkündung des Ergebnisses herrscht Partystimmung in der Stadt. Bühnen sind aufgebaut, Feuerwerkskörper knallen, viele tanzen ausgelassen zu lautem Hindipop, einer Sprache, die hier alle verstehen. Die Kandidaten geben sich siegessicher.
Doch das Wahlergebnis überrascht viele: Gerade 28 der 72 Parlamentssitze gehen an das Bündnis aus Kongresspartei und Kommunisten, das eigentlich favorisiert war. Die Telugu-Desam-Partei und die Marxisten verpassen nur knapp die absolute Mehrheit. Die restlichen zehn Mandate verteilen sich auf unabhängige Kandidaten, die meisten von ihnen ehemalige Kongress-Abgeordnete, die auf eigene Faust in den Wahlkampf zogen.
Es bleibt jedoch bei einem blauen Auge für die Kongresspartei: Mit den Stimmen der Unabhängigen wird der Kongress-Abgeordnete Janardhan zum neuen Bürgermeister gewählt. Für viele ist das eine Überraschung, da er einer der untersten
Kasten
angehört. Der sogenannten
Backward Class
sind zwar im Rahmen eines Antidiskriminierungs-Gesetzes der Regierung eine feste Anzahl von Parlamentssitzen zugesichert worden, dennoch gelten deren Mitglieder in der indischen Gesellschaft nicht viel. Und wirklich: Die Wahl von Janardhan erntet sowohl im Parlament als auch auf der Straße viel Kopfschütteln. Eine Gruppe von Parlamentariern, allesamt Anhänger vom Janardhans Parteikollege Dorababu, droht gar öffentlich mit Selbstmord, bis sie schließlich mit der Wahl Dorababus zum Vize-Bürgermeister besänftigt wird.
In Einem sind sich nach dieser Wahl fast Alle einig: Viel ändern wird sich nicht. Es wird weiter diskutiert werden, gefeiert und kritisiert, aber auch geschmiert und diskriminiert. Indische Politik ist nicht gerechter als Deutsche. Aber hitziger, bunter und lauter. Spaßbremsen wie Merkel und Müntefering hätten hier keine Chance.