IRAK-GEISELN
Soll ich?
Die Tagesschau hat das Video der beiden im Irak entführten Deutschen nicht gezeigt. Das ist gut so. Doch was ist mit den vielen Kopien im Internet? Müssen wir uns das ansehen?
Von Carsten Lißmann
Gestern auf meinem Computerbildschirm: Eine Frau und ein junger Mann knien Arm in Arm, die Köpfe gesenkt, sie hält seine Hand. Die Frau trägt ein blaues Tuch um Kopf und Schultern und eine Brille. Er hat schwarzes Haar, Bart und sitzt dort im Mantel. Die Frau sagt ein paar Worte in die Kamera, dann beginnt sie zu weinen. Die beiden sind Mutter und Sohn und wurden vor vier Wochen im Irak verschleppt. Ihre Entführer nennen sich "Pfeile der Rechtschaffenheit" und drohen, ihre Geiseln zu ermorden, sollte die Bundesregierung nicht die deutschen Truppen aus Afghanistan abziehen.
Die Forderungen lassen sie in dem Video von den Geiseln selbst vortragen. "Ich bitte sie, mir zu helfen", sagt die Entführte und spricht damit Bundeskanzlerin Angela Merkel an. "Diese Leute hier wollen meinen Sohn vor meinen Augen umbringen und hinterher mich. Ich möchte nicht auf diese Art und Weise sterben", sagt sie in die Kamera und mir ins Gesicht. Uns allen. Dann weint auch ihr Sohn.
Nach wenigen Minuten ist mir klar: Ich will so etwas nie wieder sehen. Weil es erniedrigend ist und gemein, weil ich mich benutzt fühle. Ich will nicht – doch muss ich mir diese Bilder nicht anschauen? Soll ich nicht sogar?
Die Botschaft, hässlich wie sie ist, ist ja eine Botschaft an mich. Die Entführer artikulieren mit ihrer Todesdrohung gegen die Geiseln eine politische Forderung und als Teil der deutschen Öffentlichkeit habe ich ein kleines bisschen Einfluss darauf, ob ihre Forderungen erfüllt werden. Andererseits ist es genau das, was die Verbrecher wollen. Sie wollen mich entsetzen, empören, sie wollen, dass ich mich schuldig fühle – schuldig für die Kriege im Irak und in Afghanistan, schuldig für das Leid der Geiseln, schuldig für die schaurige Faszination, die das Video auf mich ausübt.
Die Tagesschau hat das Video nicht gezeigt
. Das ist, aus der Logik des Fernsehens betrachtet, richtig und dankenswert. Seit Entführer aller Art dazu übergegangen sind, ihre Forderungen im Fernsehen zu verbreiten, werden diese Fragen für Journalisten immer lauter.
Wer benutzt hier wen? Was ist die Nachricht und wo beginnt Voyeurismus?
Wie viel muss ich wissen, wenn ich am Weltgeschehen teilhaben will?
Dass die Tagesschau sich jedoch dagegen entscheidet, das Video zu zeigen, löst mein Problem nicht. Seit es das Internet gibt, heißt die Frage für Journalisten nämlich nur noch: "Sollen wir das auch zeigen?" Und nicht mehr: "Sollen wir das veröffentlichen?" Anders als noch vor 15 Jahren ist vieles längst öffentlich, wenn sie davon erfahren – immer öfter kommt die Information selbst aus dem Internet. Und das bedeutet, dass ich selbst die Macht habe, zu entscheiden, was ich sehen will und was nicht.
Soll ich oder soll ich nicht? Darf ich einen Brief nicht öffnen, nur weil ich weiß, dass die Nachricht darin mich abstoßen wird?
Mitreden ist wichtig:
Angenommen, hier im Forum gäbe es das Video
– Würdet ihr es euch anschauen?
Was geht uns das an?
– Ein US-Soldat wird in Deutschland verurteilt, weil er nicht in den Irak zurück wollte
Nach Hause
- Zuender. Das Netzmagazin