Alkohol
Eins oder Null
Manche Menschen trinken digital: An oder Aus, ganz oder gar nicht. Sie sind wie kaputte Autos, die nur den fünften Gang kennen. Eine Milieustudie
Von Adrian Pohr
Es gibt einen speziellen Typus Alkoholiker, dessen Umgang mit Alkohol an einen Sportwagen mit kaputtem Getriebe erinnert. Der erste Gang funktioniert ganz normal. Er unterhält sich nett, stellt eloquent die Weltgesetze in Frage, guckt auf die Uhr. Noch vor Mitternacht sollte er nach Hause kommen, denn acht Stunden Schlaf sind wichtig, sonst ist der nächste Tag ungenießbar.
Man kann von hier aus einen oder zwei Gänge hochschalten, ohne Schaden zu nehmen: Was macht schon ein Gläschen mehr? Man sollte eine gute Unterhaltung nicht unterbrechen, ein Stündchen später ins Bett ist auch in Ordnung. Der Kaputter-Sportwagen-Trinker aber kennt Gang zwei, drei und vier nicht. Seine Gangschaltung ist ein simples Zweigang-Getriebe: Vom ersten Gang geht es direkt hoch in den fünften.
Angetrunken wird der Abend schnell zum Exzess. Die Grenze ist das Getränk Nummer Zwei: Die darauffolgende Runde dient nicht mehr dem netten Gespräch, sondern maßgeblich dem Füttern des eigenen hungrigen Erlebnismonsters. Ein Bier folgt dem nächsten, auch schnell ausgeführte Zwischensprints - Schnaps, Wodka, Sekt, alles, was schneller zum eigenen Niedergang beiträgt - gehören dazu.
Das Getränk wird nur zum Rausholen der nächsten Zigarette abgestellt, ein leeres Bier hat in weniger als fünf Minuten seinen Nachfolger. Der Schluckrhythmus wird bei etwa mit 60 sh (Schluck pro Stunde) gehalten. Der Fünft-Gängler grunzt in sein stilles Ich: Oh Gott, ich kann noch laufen, was will ich jetzt zu Hause?! Er will an Bars lehnen und zur Musik wippen, bis ihn die Sonne zu Asche zerfallen lässt - oder ihn im Taxi heimschickt. Zuvor hält er sich für einen Lebenskünstler, einen Menschen, der Frohsinn und Freude verbreitet. Dieser Mensch hört anderen zu, unterhält sie, erfreut sich an einfachen Dingen und kann unglückliche Freunde und Fremde beraten. Er will tanzen und lieb haben und natürlich auch geliebt werden. Es ist ein Mensch, der Glück empfindet und weitergibt. Dieser Typ Trinker strebt die Selbstzerstörung nicht an, aber er steuert unweigerlich auf sie zu, hat er erst einmal in den fünften Gang geschaltet.
Dabei ginge es auch ganz ohne Exzess. Man kann sich mit einem solchen Übertreibungstrinker auf ein Bier treffen. Das nette Unterhalten beherrscht er, selbst das anschließende Umschalten in einen anderen Modus: ins Lesen, Arbeiten oder Fernsehen beispielweise. Aber wehe, die Lust wird geweckt! Wehe, die Gier nach dem zweiten Bier erwacht! Dann endet der Abend nicht selten erst fünf bis acht Stunden später und heißt nicht mehr Abend, sondern Morgen.
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