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Unsicher

Halbwahrheiten

Demokratie ist das einzig richtige System. Atome sind nicht teilbar. Gott hat die Welt geschaffen. Was heute wahr ist, kann morgen schon ganz falsch sein. Wie kann ich da eine Meinung haben?

Ich glaube, heute ist es für die meisten leicht sich auf die richtige Seite zu stellen. Man ist für Ökostrom, gegen die Klimakatastrophe, für Toleranz gegenüber Minderheiten, gegen Massentierhaltung, gegen Nazis, gegen die Politik der Großkonzerne, für Fair Trade, gegen die Unterdrückung der Frauen, gegen Ausbeutung, für Demokratie, gegen den Krieg im Irak und noch vielerlei Dinge mehr, wo man sich positionieren kann. Und ob für oder gegen den Krieg, fast alle gehen wir davon aus, dass Gesellschaftssysteme eine Rangordnung haben und ganz oben steht die Demokratie. Ich bin nicht dagegen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das so stimmt.

Ich vermute, die nächsten Jahre werde ich nicht aufhören mich darüber zu wundern, mit welcher Selbstverständlichkeit Menschen glauben sie seien im Recht. Wenn ich mir mich selber anschaue, habe ich immer weniger zu dem Dickicht der Meinungen beizutragen, weil ich immer weniger Meinungen habe, die ich laut vertreten möchte. Was ich früher für richtig gehalten habe, sehe ich heute anders, möglicherweise genauer, aber darum geht es nicht. Ich ahne, dass ich in einigen Jahren wieder andere Meinungen haben werde als heute. Wie sollte etwas von dem Ganzen unumstößlich sein?

Ich hätte gerne eine Talkshow, in der Menschen aufeinander treffen, die vor zwei, drei, vier Jahrzehnten erbitterte Gegner in irgendeiner Sache waren. Ich wüsste gerne, wie viel übrig bleibt von den gegenseitigen Schuldzuweisungen.

So weit ich das sehen kann, funktioniert die ganze Geschichte der Menschheit so. Eine Zeitlang waren Sklaven etwas Selbstverständliches, aus heutiger Sicht kommt uns das falsch vor. Eine Zeitlang hat man geglaubt, Gott habe die Welt erschaffen und jeder, der was anderes glaubte, war Heide oder zumindest ein Trottel. Man hat geglaubt, Atome seien nicht teilbar, Erdbeben auf den Zorn der Götter zurückgeführt. Man hat geglaubt, der Kapitalismus werde sich selbst vernichten, es werde ein Atomkrieg ausbrechen, man hat geglaubt, wenn der Herzschlag eines Menschen für Minuten aussetzt, könnte er nicht ohne fremde Hilfe ins Leben zurück.

Und alle haben immer geglaubt, dass ihr Standpunkt der richtige ist. Vielleicht werden in fünfzig Jahren alle Menschen Vegetarier sein.

Niemals, ein gutes Steak wird man immer zu schätzen wissen.

Und genauso hat man früher vielleicht geglaubt, dass die Sklaverei nie abgeschafft werden wird.

Eine billige Arbeitskraft wird man immer zu schätzen wissen.

Ich sehe keine Zweifel. Und das führt dazu, dass ich langsam niemandem mehr glaube. Niemand ist völlig im Recht. Oder völlig im Unrecht.

Wo bleibt die Demut angesichts dieses Universums, das wir nie verstehen werden? Wo bleibt der Wunsch etwas wirklich zu verstehen, wenn man sich immer nur auf der richtigen Seite weiß? Wo bleibt die Bewegung? Die Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens?

Aber ich frage mich auch: Wo ist meine Meinung geblieben? Doch dann denke ich: Je öfter ich darauf verzichten kann, desto besser.

Auch von Selim Özdogan:

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