Kolumne
Verbotene Heimat
Wohin wenn die Sonne scheint? Eine Problemfrage, die es früher nicht gab. Doch nun ist da Wehmut - und ein Sommer daheim.
Von Selim Özdogan
Den ganzen Winter über sah ich die anderen gar nicht. Doch sobald es Frühling wurde und das Wetter angenehm war, zog es mich an den See und bis zum Sommer hin tauchten die Menschen auf, die ich noch vom letzten Jahr kannte. Kannte ist eigentlich zuviel gesagt, wir grüßten uns und wechselten auch ein paar Worte, aber von fast niemanden wusste ich, wie er hieß und warum er Zeit hatte, tagsüber am See zu liegen.
Sobald du aus der Schule heraus bist, kann der Sommer für Menschen, die scheinbar über viel freie Zeit verfügen, schwierig werden. Für die Studenten zieht sich das noch ein wenig länger hin, doch irgendwann kommt für einen selbstständigen Autor wie mich der Zeitpunkt, wo niemand, den du kennst, zu den gleichen Zeiten frei hat wie du. Meine Freunde von früher haben Jobs und Familie, die können keinen Dienstagvormittag am See verbringen.
Und ich sitze zu Hause, die Sonne scheint, die Arbeit drängt gerade nicht, ich habe das Gefühl, das gute Wetter zu vergeuden, wenn ich am Schreibtisch sitze, es ist Sommer, ich will raus. Nein, ich habe das Gefühl, ich muss raus. Früher packte ich meine Sachen und fuhr an den See.
Der See war umzäunt und eigentlich durfte man das Gelände nicht betreten, aber irgendwie war immer ein Loch im Zaun, ich weiß nicht, wer das machte. Das eine oder andere Mal tauchte auch die Polizei auf, vertrieb uns und schlimmstenfalls gab es eine Geldbuße, aber das passierte so selten, dass uns das nicht schreckte.
Letzten Frühling fand ich auch ein Loch im Zaun, der erste sonnige Tag, und ich freute mich schon, doch es war alles anders. Der Zaun und die Bullen hatten uns nicht abhalten können, also hatten sie die Flächen auf denen wir gelegen hatten, bepflanzt, da war kaum ein Meter Platz, wo man sein Strandtuch hätte ausrollen können. Schwimmen und gleich wieder gehen, mehr Möglichkeiten gab es nicht. Und zum Schwimmen war das Wasser noch zu kalt.
Der Sommer, der folgte, war nicht besonders schön. Oft saß ich bei gutem Wetter daheim und überlegte, aber Freibad oder Liegewiese oder ein See, für den ich eine Stunde unterwegs gewesen wäre, waren einfach nicht das gleiche.
Und dann traf ich beim Einkaufen eine der Frauen, die auch immer am See gewesen waren und mit der ich mich nie unterhalten hatte. Ich wusste noch genau, wie ihre Brüste aussahen, aber ich konnte mich nicht an ihre Stimme erinnern. Wir grüßten und mussten beide breit lächeln. All die Jahre hatte ich sie nur am Wasser gesehen, aber auch sie hatte ein Leben, in dem sie Brot, Tomatensauce, Deoroller und Avocados brauchte.
- Was machst du denn jetzt so? fragte sie und ergänzte dann: Ich meine, an welchen See fährst du?
Doch ich hatte sie schon verstanden. Ich zuckte mit den Schultern. Das Lächeln verschwand aus meinem Gesicht, ich muss traurig ausgesehen haben, denn sie sagte:
- Hm. Ich weiß auch nicht mehr, wo ich im Sommer hin soll.
- Wahrscheinlich geht es uns allen so, sagte ich.
- Es war echt schön da, so friedlich.
- Und man musste sich nie Gedanken machen, wo man hin will.
- Ja, genau.
So viele Worte auf einmal hatten wir in den letzten Jahren nicht miteinander gesprochen. Klar, wir hätten noch mehr reden können, Telefonnummern austauschen und so. Aber das hätte nichts geändert. Was wir wollten, war einfach nur ein Platz, an dem wir uns zu Hause fühlten.
Weiterlesen:
Letzte Woche
- Selim besucht einen Stierkampf
Alle Kolumnen
- Passen die Schuhe, vergisst man die Füße
Nach Hause
- Zuender. Das Netzmagazin Füße