Kolumne
Was Mama morgens rauslegt
Passen die Schuhe, vergisst man die Füße
Von Selim Özdogan
Uns mangelt es an Aufmerksamkeit, immer wieder. Wo ist noch mal das
Mobiltelefon und in welcher Straße hatte ich das Auto geparkt? Was wollte
ich hier noch mal, fragt man sich, wenn man vor der geöffneten Schranktür
steht und ein wenig ratlos auf Teller und Tassen guckt, die man gerade nicht
braucht. Und nicht nur in Slapstickfilmen laufen Menschen frontal gegen
Laternenpfähle.
Oder man merkt erst im Ziel, dass man als deutsche Biathletin eine Kappe in
den belgischen Nationalfarben aufhat. Und das auch nur, weil einen jemand
anders darauf hinweist. So passiert letzte Woche, als Martina Glagow Bronze
gewonnen hat.
Das fand ich nicht nur lustig, es hat mich auch beeindruckt. Da werden an
dreißig Menschen des deutschen Teams Kappen ausgeliefert, auf denen die
Farben nicht schwarz, rot, gold sind, sondern schwarz, gold, rot, wie bei
den Belgiern. Die wiederum haben ja die deutschen Mützen bekommen. Und
keiner hat es vorher gemerkt.
Angezogen wird, was Mama, oder in diesem Fall Adidas, morgens rauslegt. Da
hat man eh kein Mitspracherecht, warum sollte man sich dann auch noch
ansehen, was man da anzieht? Ist doch scheißegal. Außer Medaillen gewinnen
hat meine keine Eigenverantwortung.
Es mangelt an Aufmerksamkeit, aber meistens bei Dingen, die nicht sonderlich
wichtig sind. Wir wissen alle, wie wir heißen, die wenigsten vergessen
regelmäßig ihre Pin Nummer, es besteht kein Zweifel daran, wo wir wohnen,
selbst wenn die Haustürschlüssel nicht zu finden sind. Wahrscheinlich sind
diese Farben und Symbole nicht so bedeutsam, wie man uns einreden will, auch
wenn behauptet wird wir seien Deutschland. Wir sind Sportler, Liebhaber,
Verlierer, Monster, Angeber, Sexbesessene, Arbeitstiere, Väter, Mütter,
Kinder, Tänzer, Sänger und Belgier und was nicht sonst noch alles. Aber wir
sind nicht Deutschland. Ich finde das schön.