In Berlin sind die Leute so gehetzt. Immer auf der Jagd nach der nächsten Telefonnummer oder dem besseren Job. Dabei suchen sie alle nur eine Heimat.
Die Kolumne von Markus Kavka
Meine Schwägerin ist in diesen Tagen in Berlin. Ja, ich habe eine Schwägerin, weil mein um drei Jahre jüngerer Bruder im Gegensatz zu mir verheiratet ist. Er hat auch schon ein Haus gebaut, unweit des Örtchens, in dem er und ich aufgewachsen sind und in dem meine Eltern immer noch leben.
Wenn man sich in Berlin herumtreibt, ist in vielen Gesprächen, die man mit den Getriebenen des Nachtlebens und der Café-Boheme führt, von "Heimat" die Rede. Kaum einer hier hat eine, weil die alte verloren und die neue noch nicht gefunden ist. Alle kommen von irgendwo, ein Irgendwo, in das sie nicht wieder zurück wollen, und alle warten sie darauf, dass diese Stadt sie endlich mal freundlich umarmt und "Herzlich willkommen!" sagt. So etwas machen Großstädte in der Regel aber nicht, schon gar nicht Berlin. Berlin ist viel zu groß, viel zu hart und viel zu kalt, außerdem muss hier ja jeder selbst gucken, wo er bleibt.
Als ich vor fünf Jahren in diese Stadt kam, ließ ich mich erst mal in Friedrichshain, dem Junge-Leute-Zuzieh-Bezirk Nummer eins, nieder. Inmitten von Studenten aus aller Herren Bundesländer, sprießender orientalischer und asiatischer Imbisskulturen und einigen übrig gebliebenen Ostberlinern versuchte ich, mich zuhause zu fühlen. Klappte nicht. Weil es vor der Haustür ein so vielfältiges Animationsprogramm gab und man auch gerne mit anderen Heimatlosen abhing, sah es nach zwei Jahren in meiner Wohnung immer noch so aus, als wäre ich erst vor kurzem eingezogen. Damals ging es dann los, dass mein Heimweh mich dazu trieb, merkwürdigen, sentimentalen Retro-Quatsch zu veranstalten.
Ich fahndete nach Getränkemärkten, die bayerisches Bier (vorzugsweise Augustiner) verkauften, verschwendete unfassbar viel Energie darauf, halbwegs essbare Laugenbrezeln und Leberkäs-Semmeln sowie eine Kneipe zu finden, in der am Samstag nicht das Spiel von Hertha BSC, sondern das von Bayern München geguckt wurde. Das alles half natürlich nichts, weil ich schnell feststellen musste, dass ich mit "Zuhause" etwas ganz anderes als mein Heimatdorf meinte. Und obwohl ich gerne meine Eltern besuche, bayerisch rede und esse, will ich auch nicht mehr dorthin, weil es mir dort zu klein ist, weil es dort keine Discos gibt und weil dort alle so leben, wie ich es nie wollte. Dass man deswegen aber alle Wurzeln rausreißen muss, wollte ich auch nicht.
Man fängt irgendwann an zu rennen, erst durchs Studium und dann durch Jobs in verschiedenen Städten, man rennt durch Beziehungen, wird immer schneller, die Beine wollen einen nicht mehr tragen, aber man kann nicht mehr aufhören zu rennen, weil da vorne ja noch was sein könnte, das man tunlichst auch zügiger als die anderen erreichen sollte. Hup Hup, aus dem Weg! Und wer die lautere Hupe hat, hat Vorfahrt, und wer schneller Schluss macht, hat gewonnen. Es ist ein Wettrennen ohne Sieger, und jede Großstadt, besonders Berlin, ist ein Circus Maximus voller Verlierer.
Ist es ein Problem dieser Generation? Ist aus der Generation der Mobilen die Generation der Heimatlosen geworden? Dafür spricht, dass selbst so mancher, der in Berlin geboren ist, mindestens genau so schnell durch das Leben in dieser Stadt rennt, wie das all die Schwaben, Bayern, Rheinländer et cetera hier tun. So schnell, wie im Handy neue Nummern gespeichert werden, kann man die alten gar nicht mehr löschen, und wenn man einen großen Speicher besitzt, hat man bald zur Hälfte aller Nummern kein Gesicht mehr. Und wer sind eigentlich die Leute, denen man über ein paar Wochen hinweg viele Mails geschrieben hat, können die jetzt mal raus aus "Gesendete Objekte", oder was?
Vielleicht wäre es einfacher, wenn man sich jeden Namen, der einem mal etwas bedeutete, tätowieren lassen müsste, dann wäre bei zwei Quadratmetern Haut schnell Schluss mit dem inflationärem Vorne-rein-hinten-raus. Das ist irre, denn eigentlich will ja hier keiner dem anderen etwas Böses. Alle wollen sie geliebt werden, aber weil jeder geliebt werden will, hat auch jeder Angst, dass nicht genug für alle da ist. Man sieht dann nicht mehr den Freund, sondern nur noch den Feind, und auch wenn man mal kurz am See zusammen in die Sonne blinzelt oder in großer Runde kocht, wird das nur als trügerischer Waffenstillstand wahrgenommen, bevor man sich wieder ins Getümmel stürzt.
Genau so würde ich das immer noch machen, wenn nicht vor zwei Jahren der Begriff Heimat wieder seiner ursprünglichen Bedeutung zugeführt worden wäre, nämlich: Home is where the heart is.
Wenn nämlich nicht vor zwei Jahren ein Mensch in mein Leben getreten wäre, der meinen Kühlschrank mit frischen Sachen füllte und meine Wohnung nicht nur wie eine aussehen ließ, in der überhaupt jemand wohnt, sondern auch noch wie eine, in der ein Junge und ein Mädchen glücklich zusammen sind, dann würde ich mir heute immer noch die Hacken nach Brezeln, Bier und Zuneigung abrennen.
Gut, dass ich das alles zugelassen habe. So kommt´s nämlich, dass mein Bruder und ich gleichermaßen ein Zuhause, eine Heimat haben. Denn am Ende sind es immer die Menschen und nicht die Stadt, die einen in den Arm nehmen und "Herzlich willkommen" sagen.
Und überhaupt war es hier mal höchste Zeit für eine Liebeserklärung.