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Kurzgeschichte

Klimawandel

Ananas, Litschis, chloriges Leitungswasser und Kakerlaken. Im Nebenzimmer singt der Inder seine Indergesänge. Und ich sehne mich nach zehn Grad minus in Süddeutschland.

Es ist einfach zu heiß. Seit Anfang Dezember steigen die Temperaturen täglich. Die ganze Gegend verwandelt sich in einen Waschkessel. Wir arbeiten noch ein paar Tage im Schutz der Klimaanlagen, dann kommen die Ferien. Heiligabend fahren wir zum Strand. Später wird der Grill angefeuert. Wir amüsieren uns darüber, dass ein paar tausend Kilometer weiter nördlich Weihnachtsgans und Marzipan konsumiert werden, während wir uns bei Ananas, Lidschis und chlorigem Leitungswasser halten. Sehnsucht ist auch dabei: Klare, kalte Luft, Schnee -- in der Erinnerung wird unser Land immer schöner. Wie fühlen sich zehn Grad minus an, die gerade in Süddeutschland gemessen werden? Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man bei einer Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent vor der Hitze Schutz sucht und Kakerlaken mit dem Wasserschlauch verjagt. Anfang Januar kehre ich in das kleine Zimmer im Wohnheim zurück.

Abgesehen von meinem indischen Zimmernachbar sind die Bewohner noch bei ihren Familien, im Urlaub in Übersee oder zumindest weiter oben am Berg, wo es erträglicher ist. Denn die Wohnheimzimmer haben keine Klimaanlagen. Wann wird der allgemeine Betrieb wieder aufgenommen? Ich weiß es nicht. Auf dem Campus gibt es keinen Aushang, und es ist nicht eine Seele dort, die man fragen könnte. Auch der Inder hat keine Ahnung.

Ich harre in meiner Bude aus und verzweifele an der Langeweile von Camus' Pest und Musils Mann ohne Eigenschaften. Zwei Sätze lese ich, beim Dritten werde ich müde, nach einer knappen Seite lege ich das Buch auf meiner Brust ab, wo sich die Seiten mit Schweiß vollsaugen. Draußen kein Windhauch. Dann nicke ich wieder für ein paar Minuten ein.

Der Inder im Nebenzimmer scheint kein Problem mit der Hitze zu haben. Wenn ich um halb acht aufwache und trotz Schlaf völlig geschafft bin, dann höre ich ihn singend vom Duschraum zurückkommen. Er hat eine seltsame Art mit mir zu sprechen. "Hello my friend!", fängt er immer an, sein Akzent ist der Akzent aller Inder.

Nachts gehen die Temperaturen zwei, vielleicht drei Grad zurück, die Palmen rascheln im Wind. Aber am nächsten Morgen ist die Hitze mit Sonnenaufgang da. Sie macht auch vor meinem vergitterten Fenster im Erdgeschoss nicht Halt. Und das Meer in der Ferne sieht trübe aus. Kein Hinweis mehr auf die frische See, die da in der Trockenzeit wild brauste und sich überschlug. Stattdessen hängt das Wasser in der Luft wie im Dampfbad. Der Schweiß tritt an den Unterarmen in dicken Tropfen aus meinen Poren. Der Rücken ist nass. Wenn ich im Zimmer bin, ziehe ich das Hemd sofort aus und hänge es über die Wäscheleine, die ich quer durch das Zimmer gespannt habe. Habe ich ein Kleidungsstück dreimal vollgeschwitzt, wasche ich es aus, nicht vorher.

Nebenan kocht der Inder. Er hat sich (vermutlich bei einem anderen Inder auf der Insel) einen Kochtopf mit Kabel gekauft, mit dem er nun täglich zweimal sein monotones Gemüse gart: Lauch, Zwiebeln und ein grünes Gestrüpp, das aussieht wie Überreste einer Hecke. Aber Hecken gibt es hier nicht. Der Inder würzt immer gleich. Jeden Tag Cumin. Das bittere Aroma sticht so in der Nase, dass ich schon überlege, zum Gegenangriff auszuholen. Im Regal steht noch immer ein Glas Rotkohl, das mir meine Mutter mitgegeben hat, von ihr selbst eingekocht. Aber ich bin zu phlegmatisch. Und überhaupt: Rotkohl. Ich kann mir nicht vorstellen, das Zeug bei dieser Hitze zu essen. Ich versuche an Rouladen zu denken, an falschen Hasen, geräucherte Forellen und andere Spezialitäten aus der Heimat. An die Geschmäcker kann ich mich nicht mehr erinnern. Es ist einfach zu heiß für Kochwürste und Haxe. Dennoch nervt das satte Aroma von Cumin. Der Geruch lässt sich nicht aussperren, weil ich tagsüber meine Zimmertür nicht schließen will. Cumin. Nur bei geöffneter Zimmertür besteht Hoffnung auf einen minimalen Luftstrom. Aber auch der bleibt oft aus, so dass ich eines Tages gegen Mittag vom Bett aufstehe und die Tür entnervt zuwerfe. Der Gecko an der Zimmerdecke schreckt auf und läuft an der Wand herunter hinter den Schreibtisch.

Einmal lädt mich der Inder zum Essen ein. Er arbeitet an der Universität in einem Programm im Bereich Biochemie. Auf meine Frage, was er sonst so macht, zuckt er mit den Schultern. Dann fällt ihm doch etwas ein: Er sehe gern Filme an. Als ich den ersten Bissen seines Gemüses kaue, kommt es mir vor, als hätte ich es schon wochenlang täglich gegessen. Bei all der Hitze und der mörderischen Luftfeuchtigkeit überlege ich kurz, ob ich ihm nicht seine riesige Tüte mit Cumin klauen soll. Aber ich traue mich nicht.

Irgendwann ist der Inder weg. Ich wache morgens auf und merke, dass etwas fehlt. Der Geruch von Cumin. Ich horche und höre seinen hohen Gesang nicht. Kurz überlege ich, ob er sich etwas angetan hat. Bei der Hitze kann man nicht wissen. Die Nerven können einem durchgehen. Ich langweile mich ein paar Seiten mit Musil und schlafe wieder ein. Gegen Mittag beschließe ich, einen Ausflug um das Gebäude herum zu machen. Ich spähe beim Inder durchs Fenster. Kochplatte und Cumintüte stehen verwaist nebeneinander und warten auf ihren Einsatz. Das Bett ist gemacht, die Stifte liegen parallel zur Schreibtischkante, der Schrank steht offen, ist jedoch bis auf einzelne Kleidungsstücke leer geräumt.

Eine Shiva-Figur glotzt die gegenüberliegende Wand an. Der Inder hat sich abgesetzt. Schon nach zwei Tagen fehlt mir sein morgendliches Singen. Auf dem Markt kaufe ich mir mit Cumin gewürzte Gemüse-Samosas und ein paar Räucherstäbchen in Gedenken an ihn. Ein Verkäufer bietet mir einen toten Hahn an, dessen Hals schlapp über den Rand einer Basttasche hängt. Ich lehne ab. Ein sehr guter Hahn, grinst der Verkäufer. Ich nicke anerkennend, bleibe aber dabei. Der Hahn sei den verlangten Preis wert, erklärt der Mann mit Nachdruck. Davon bin ich überzeugt, antworte ich und gehe weiter.

Tage vergehen, die Gebäude bleiben geschlossen. Ich schwitze, schlafe, warte. Nichts passiert. Tristesse. Nachlassen des Zeitgefühls. Gereiztheit, Unruhe bei völliger Erschöpfung, Stunden und Tage immer gleich. Nach geschätzten drei Wochen höre ich das Singen des Inders wieder im Flur. Ich reiße die Tür auf und starre ihn an, als sei er von den Toten auferstanden, um mich zu holen. Er grüßt sehr freundlich ("Hello my friend!") und erzählt, dass er zur Hochzeit in Indien war ("for marriage"). Ich frage nach, wer denn geheiratet habe. Er selbst und sein Bruder, antwortet er vergnügt. Dann zeigt er mir ein Bild seiner Braut. Sie sieht umwerfend schön aus. Sie sieht aus wie von einem anderen Stern auf die unwürdige Erde entsandt. Ich lobe ihn für seine Wahl. Er lacht laut. Ich fragte, wie lange sie sich kennen. Schon zwanzig Jahre, sagt er und zwinkert mir zu. Da verstehe ich endlich.

Als die Bibliotheken wieder öffnen, bleiben mir nur noch zwei Wochen. Die letzten Tage vergehen viel zu schnell, es bleibt gerade Zeit, sich zu verabschieden. Schon stehe ich am Flughafen, das Glas Rotkohl meiner Mutter im Koffer. Der Flieger hebt ab, ich sehe ein letztes Mal die Lichter der Hauptstadt. Dann landen wir in Europa. Schon aus der Luft fällt es mir mit Schrecken auf: keine Blätter an den Bäumen. Natürlich, es ist erst Ende Februar. Eine S-Bahn und ein Regionalzug bringen mich nach Hause, heimwärts. Vertraute Vegetation, vertraute Gebäude, vertraute Ansagen von Ortschaften durch die Lautsprecher, vertraute frustrierte Gesichter mir gegenüber im Abteil. Draußen die leichten Hügel und die Felder mit den besten Böden des Landes, wie man sagt. Der Verkehr perfekt geregelt durch Fahrstreifen, Ampeln und Schilder, sogar die Bäume stehen Spalier. Als der Zug in den Bahnhof einfährt, fühle ich mich wie ein Grundschüler, der von seiner ersten Klassenfahrt zurückkehrt, bereit, von den Eltern in die Arme geschlossen zu werden.

Ich suche mit freudig nervösen Blicken den Parkplatz ab. Aber das Auto meiner Eltern ist nicht da. Also mache ich mich zu Fuß auf den Weg. Es ist erbärmlich kalt. Ich zittere. Meine Mutter steht im Garten. Sie winkt von weitem: "Mensch, da bist du ja endlich. Na, wie war es?" Mir ist kalt, will ich sagen, aber ich komme nicht dazu. "Könntest du bitte gleich mal ein paar Äste von den Obstbäumen absägen, das ist jetzt genau die richtige Jahreszeit." Ich entgegne, dass die Sonne schon so tief steht und es in fünfzehn Minuten dunkel sein müsse. Meine Mutter guckt mich zweifelnd an. "Es ist doch erst kurz nach drei, bis nach sechs haben wir Licht."

Da verstehe ich, wo ich bin: zweiundfünfzigster Breitengrad Nord, gemäßigte Zone, Jahreszeitenklima. Später schlägt meine Mutter vor, zur Feier des Tages einen Braten im Römertopf zu machen. Rotkohl sei dazu doch lecker, findet sie. "Sehr gern", sage ich, "ich hole gleich mal ein Glas aus dem Keller hoch."

Auch schön
Sonntagstext: Schicksal halt
Die Hilflosigkeit beim Versuch, zu beschreiben, wie ein vereinzeltes Geräusch in der Stille klingt. Eine fremdenfeindliche Jakobsweggeschichte.
Startseite – Zuender. Das Netzmagazin

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