Vor 47 Jahren wurde die Mauer gebaut. Viele vergessen das gern, wenn sie über die DDR reden. Klaus Schroeder hat mehr als 5.000 Schüler befragt und fordert ein zweites 1968 in Ostdeutschland
Fragen von Jasmin Rietdorf
FU Berlin hat Professor Klaus Schroeder 5219 Schüler über ihre Meinung zur DDR befragt. Die Ergebnisse haben viele erschreckt. Die DDR sei keine Diktatur gewesen und habe vor allem positive Seiten gehabt, sagte die Mehrheit der Schüler. Sie konnten auch nicht sagen, wer die Mauer am 13. August 1961 errichten ließ.
Für eine Studie der
Zuender: Herr Schroeder, die DDR gibt es seit fast 19 Jahren nicht mehr. Warum ist es wichtig, dass Schüler über den SED-Staat Bescheid wissen?
Klaus Schroeder: Wer nichts Genaues weiß, verklärt die Vergangenheit. Die DDR hat ein Negativ-Konto, das die Schüler kennen sollten. Die Mauer hat unzählige Opfer gefordert. Nicht nur die Toten, sondern auch die 50.000 Menschen, die in Gefängnisse gesteckt wurden, weil sie versuchten, aus dem Land zu flüchten. Und Leute, die auf Minen getreten sind und zu Krüppeln wurden.
Wir leben heute in einem freien demokratischen Staat. Dazu gehört, sich von anderen Staaten abzugrenzen, in denen es keine Freiheit gibt und in denen die Menschenrechte nicht eingehalten werden. Diktaturen müssen stigmatisiert werden, damit die jungen Leute nicht auf die Idee kommen, dass eine Diktatur besser als eine Demokratie ist.
Zuender: Sie suchen die Ursachen für die unkritische Haltung vieler Jugendlicher in den Schulen. Sind wirklich nur die Schulen schuld?
Klaus Schroeder: Es ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Aber aus den Schulen beziehen die jungen Menschen zum großen Teil ihr Wissen. Die Schulen müssen ein Gegengewicht zu dem bilden, was Eltern und Großeltern erzählen. Wir fanden heraus, dass in den Schulen kaum über die DDR geredet wird, dafür aber in fast allen Familien. Die positive Sicht auf die Vergangenheit ist keine ostdeutsche Eigenheit, nahezu alle Deutschen neigen dazu – um der Selbstbehauptung willen.
Zuender: Wer sollte den Anstoß für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte geben?
Klaus Schroeder: Die Politik ist gefordert. Wenn die Lehrer, meist in Ostdeutschland, nicht mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert werden wollen, dann müssen die Bildungsministerien konkrete Vorgaben machen. In Projektwochen, durch Zeitzeugenbefragungen oder Besuchen in Gedenkstätten kann man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Der Geschichtsunterricht muss lebendiger und anspruchsvoller werden.
Dass Schüler sich nicht für die Vergangenheit interessieren würden, ist eine bequeme Ausrede derer, die es nicht schaffen, Interesse zu wecken.
Zuender: Ist die Verkitschung der DDR wirklich eine Gefahr oder eher ein Lifesyle-Phänomen?
Klaus Schroeder: Es gibt zum Beispiel eine Stasi-Kneipe im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg. Sie liegt in der Nähe der ehemaligen Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit und nennt sich Die Firma. Das war damals der Spitzname für die Stasi. Wer die Kneipe besucht, bekommt einen IM-Ausweis. Die Betreiber dieser Kneipe treten auf Stasi-Opfern herum.
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Eine Gefahr besteht aber in der neuen Staatshörigkeit. Nicht nur die jungen Leute glauben, je einflussreicher der Staat, desto besser ginge es ihnen. Das Recht auf Arbeit, das es in der DDR gab, kennen alle Schüler. Wenn man sie aber nach der Arbeitspflicht fragt und wenn sie erfahren, dass mehrere Tausend Menschen im Jahr in Arbeitslager gesperrt wurden, dann möchten sie dieses Recht auf Arbeit nicht haben.
Wir müssen den Schülern klar machen, dass wir soviel Staat brauchen wie nötig, aber soviel Freiraum wie möglich.
Zuender: Viele Schüler stimmten der These zu, dass die DDR keine Diktatur gewesen sei, dass sich die Menschen nur wie überall "anpassen mussten". Auch heute müssen sich junge Leute anpassen – zum Beispiel um eine Lehrstelle zu bekommen.
Klaus Schroeder: Heute haben sie aber auch die Freiheit zu verwahrlosen. Das klingt zynisch, aber jeder Einzelne muss lernen, mit dieser Freiheit klarzukommen. Wenn jemand in der DDR Musiker oder Maler werden wollte und vom entsprechenden Verband nicht aufgenommen wurde, musste er oder sie eine andere Arbeit machen. Die DDR-Bürger hatten nicht genug Freiraum sich so zu verwirklichen, wie sie es wollten. Eine Diktatur setzt Rahmenbedingungen und sagt, was man darf und was man nicht darf. Ob man sich politisch äußern darf, oder ob man im Alltag immer Angst haben muss, etwas Falsches zu sagen. Dass Schüler während des Fahnenappells stramm stehen mussten - das muss man den jungen Leuten heute erzählen.
Klaus Schroeder: Beide Filme spielen eine große Rolle, im Westen und im Osten. Das DDR-Leben wird auf skurrile Weise ärmlich dargestellt. Das ist auch alles ganz lustig – wenn das System für viele nicht so fürchterliche Konsequenzen gehabt hätte.
Zuender: Gibt es noch eine Mauer in den Köpfen?
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Klaus Schroeder: Jugendliche in Ost und West haben ein unterschiedliches Geschichtsbild. Unsere Vermutung war, dass die Schule dieses durchbricht, aber das tut sie nicht. Die Mauer ist geblieben, weil das Umfeld und die Familien prägender sind als die Schule. Die ostdeutschen Schüler sehen die DDR wesentlich positiver, sie überbetonen die soziale Seite. Die Mehrheit von ihnen blendet die diktatorischen Seiten aus. Die westdeutschen Schüler betrachten die sozialen Errungenschaften der DDR zwar auch sehr positiv, sie sehen aber auch die Nachteile einer Diktatur. Mit diesem gespaltenen Geschichtsbild müssen wir noch eine Weile leben.
Zuender: Wie lange?
Klaus Schroeder: Als Optimist würde ich sagen drei Jahre. Als Realist zehn bis zwanzig. Vielleicht gibt es so etwas wie 1968 auch in Ostdeutschland. Wenn die Jugend nach der ganzen Schäbigkeit des Alltags fragt, dann könnte daraus eine produktive Unruhe entstehen. Mutti, Vati – wie war es?
Jetzt haben die jungen Ostdeutschen eher Mitleid mit ihren Eltern. Diese werden als Verlierer des Systemwettbewerbs gesehen. Mit Verlierern und den Schwachen hat man eher Sympathie und man vergisst die Rolle, die Menschen in einer Diktatur spielen.