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Abhauen

Die Reise

Die Wohnung eines Freundes, die Schule, das Ausgehviertel –eine unbändige Freude überkam sie, nichts davon mehr sehen zu müssen.

1

Judith hatte sich von allen verabschiedet. Ihre Mutter ließ es sich nicht nehmen ein Fest für sie zu geben. Sie protestierte zwar, es waren doch nur acht Wochen. Aber als sie die Begeisterung ihrer Mutter sah, wusste sie, dass sie dagegen kaum ankommen würde. Schließlich stimmte sie zu. Und nun ließ sie sich mit ihrer gewohnten Routine nichts anmerken, begrüßte freundlich ihre Verwandten, tat überrascht als sie ihre Freunde sah und versuchte sich so weit wie möglich von all dem zu entfernen. Es fiel ihr leicht, der Gedanke an die nächsten Wochen war übermächtig. Auf die Frage wohin die Reise gehen sollte nannte sie unbestimmte Länder; Frankreich, Spanien, Portugal. In Wahrheit hatte sie keine Ahnung. Und festlegen wollte sie sich schon gar nicht. Diesmal verlangte es auch niemand von ihr.

Sie hatten ihr die Reise angeboten, als sie sahen, dass es nicht mehr ging. Dass sie nicht mehr konnte. Sie studierte nun schon seit vier Jahren, die Noten waren ausgezeichnet. Doch ruhig zu sitzen fiel immer schwerer. Die ewige Zeit auf der Uni, das endlose Überwinden um zu lernen und vor allem das sich nicht beklagen. Mehr noch das Zustimmen wie gut sie es doch hätte. Die Welt stehe ihr offen. Schlau, fleißig und hübsch. Worte die sie zusammen zucken ließen. Gar nicht zu sprechen von den stummen Zweifeln. Medizin studieren, Leuten helfen, angenehm leben, glücklich sein. Das alles waren Bilder ausgedacht von den Menschen, um sie herum, denen sie blind vertraute. Und die sie sicher nicht täuschen wollten.

Allein die Wahrheit war eine andere. Die Wahrheit war ein Krankenhaus, wo Menschen läuteten und liegen gelassen wurden, wo ein Arzt einem todkranken Patienten sagte, alles sei in Ordnung und sich dafür loben ließ. Die Wahrheit manifestierte sich bereits in dem Geruch, der ihr beim Betreten der Zimmer in die Nase stieg - im Geruch von Desinfektionsmittel und Chemie. Bis auf die Patienten war alles in bester Ordnung.

Doch als Judith immer deutlicher sah, dass sie zwischen all den weißen Kitteln zwar leicht bestehen, aber schwer überleben konnte, als es nahezu Gewissheit war, so dass sie nachts kaum mehr schlief, machte ihr Vater den Vorschlag mit der Reise. Sechs Monate später hatte sie promoviert. Sub auspiciis.

2

Allein fuhr sie zum Bahnhof, das war wichtig. Die Nacht zuvor hatte sie kaum geschlafen, um zwei wachte sie das erste Mal auf, um vier beschloss sie sich nicht mehr hin zu legen. Im gedämpften Licht kontrollierte sie noch einmal ihr Gepäck. Eine Übung gegen die innere Unruhe. Sie hatte schon vor Tagen gepackt. Dann blickte sie, von der Ordnung ihres Zimmers irritiert an die Wand. Die Sprüche dort kündeten von Träumen, die gerettet werden müssen und Veränderungen, die für das Bestehen dieser Welt notwendig waren. Sätze, die Judith an schlechten Tagen beruhigten. Nun musste das Leben trösten.

Beim Verlassen der Haustür überkam sie eine angenehme Ruhe. Einatmen – Ausatmen. Wenigstens das jetzt war sicher. Draußen war es kühl und die ersten Sonnenstrahlen, denen sie sich entgegen streckte vermochten noch nicht zu wärmen. Im Bus saß sie alleine. Die bekannten Straßen zogen vorbei, die automatisierten Erinnerungen setzten ein. Die Wohnung eines Freundes, der lange schon fort war, die Schule, die übersprungene Klasse, und das Ausgehviertel mit seinen – manchmal mehr als – flüchtigen Bekanntschaften. Eine unbändige Freude nichts davon mehr sehen zu müssen. Der Bus erreichte den Bahnhof.

3

Gegenüber ein Zug, Judiths Blick auf ihn gerichtet. Mit den Gedanken weit weg registrierte sie die Bewegung. Es ging los. Weit geöffnete Pupillen fixierten das verschwimmende rot der Lackierung und die vorbeiziehenden Fenster. Plötzlich erkannte Judith, dass sie einem Irrtum unterlag: Sie befand sich immer noch am Bahnhof, nur der gegenüberliegende Zug war losgefahren.

Weiterlesen im 2. Teil »


 
 



 

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