Auch Globalisierungskritiker brauchen Medienprofis. Der UN-Abgesandte Jean Ziegler ist ihr bester Mann. Ein Star-Portrait
von Nico Semsrott
Endlich ist er da. Die Journalisten warten schon im Pressezelt. Und irgendwie passt es, dass er sich um eine akademische Viertelstunde verspätet. Jean Ziegler war lange Zeit Professor für Entwicklungssoziologie und ist der Vorzeigeintellektuelle der Gipfelkritiker. Der 73-jährige Schweizer ist Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung. Seit fast 50 Jahren kämpft er mit Büchern und Talkshowauftritten für eine gerechtere Welt.
Es ist 11.00 Uhr, die eröffnende Pressekonferenz des G8-Alternativgipfels beginnt. Schnell wird auch hier klar, dass die Globalisierung in ihrer aktuellen Form viele Facetten hat. Zu viele, als dass irgendjemand sagen könnte, welches Thema am wichtigsten ist. Die neoliberale Globalisierung funktioniert, sagt Jean Ziegler, und sie überfordert ihre Gegner. Die Linke steht zwar vereint einem anonymen Feind gegenüber, aber sie ist gespalten, wenn es um Lösungen geht. Die einen möchten beim Klimaschutz anfangen, die anderen beim Hunger.
Die Veranstalter des Gegengipfels wünschen sich einen Austausch über eine menschenfreundlichere Form der Globalisierung. Sie betonen, dass es in ihrer Veranstaltung, im Gegensatz zum G8-Gipfel in Heiligendamm, wirklich um Inhalte geht. Jean Ziegler kennt diese Inhalte auswendig. Routiniert spult er sein Programm ab, rattert die Fakten wie Gewehrsalven runter: 854 Millionen Menschen litten im Jahr 2006 unter schwerer Unterernährung, ein Jahr zuvor waren es 842 Millionen. Weltweit produziert die Landwirtschaft so viel Nahrung, dass sie problemlos 12 Milliarden Menschen versorgen könnte. Alle vier Minuten wird ein Kind blind durch Mangel an Vitamin A. Alle fünf Sekunden stirbt eines an Hunger oder einer Folgeerscheinung. 500 multinationale Konzerne teilen 52 Prozent des Weltsozialprodukts unter sich auf.
Seine Informationen garniert Ziegler mit Slogans: „Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.“, „Hunger ist globaler Terror“. Man glaubt ihm seine Wut, obwohl er diese Dinge bestimmt schon tausend Mal gesagt hat.
Jean Ziegler ist ein Medienprofi auf Mission. Deshalb löst sich die Fragerunde auch im Gemurmel auf, als er nach einer Stunde das Pressezelt wieder verlässt, um draußen mit Fernsehteams zu sprechen. Fast die Hälfte der anwesenden Journalisten folgt ihm. Die drei weiteren Teilnehmer der Pressekonferenz, Aktivisten aus Uganda, Südafrika und den Philippinen wirken nun wie Statisten. Die Moderatorin sagt, sie habe die Fragerunde ohnehin beenden wollen.
Draußen hetzt Ziegler von einem Interview zum nächsten. Drei Fragen pro Kamera, nicht mehr. Er wettert gegen die von Konzernen diktierte Weltordnung, den nicht legitimierten Gipfel der G8, die „Dömping-Politik“ der EU. Eine russische Reporterin sagt im Anschluss an ihr Interview: „I just like this guy.“ Fast zwei Stunden nimmt er sich für Journalistengespräche, dann verschwindet er ins Hotel. Er muss seine Rede fertig schreiben, die er am Abend halten soll.
Anzeige
Gegen 17.30 Uhr eröffnet Jean Ziegler in der völlig überfüllten Rostocker Nikolaikirche den Alternativgipfel. Seine Fans beglückt er mit Seitenhieben auf eine korrupte Schweiz, einen rückständigen Papst und die „Menschenfreunde“, die in den Konzernen und Regierungen sitzen würden. Er zitiert Willy Brandt und Karl Marx. Ziegler wollte einst Che Guevara in den Befreiungskampf folgen, was dieser allerdings ablehnte.
Er ist ein Entertainer und doch gelingt es ihm, seine Kritik mit Hilfe von zahlreichen Fakten und Beispielen glaubwürdig zu machen. Das UNO-Amt verleiht ihm zusätzliche moralische Autorität. Er selbst sagt aber: „Ich hasse Moral.“ Es gehe um die analytische Vernunft.
Doch ein überzeugendes Alternativkonzept zur neoliberalen Globalisierung kann auch er nicht bieten: „Wir wissen nur, was wir nicht wollen.“ Die Linke sei auch gar nicht in der Bringschuld. Ziegler führt als Begründung die französische Revolution an: Wäre das ZDF damals beim Ansturm auf die Bastille dabei gewesen und hätte einen Revolutionär gefragt, wie er sich die Verfassung der Ersten Republik vorgestellte, hätte dieser auch nicht antworten können. Das Publikum lacht erleichtert. Er gibt Mut, macht Hoffnung, dass die Ohnmacht der Globalisierungskritiker nur ein Tal auf dem Weg zu einer gerechteren Weltordnung sein möge. Man möchte ihm glauben.
Doch dass die richtige Abzweigung auf diesem Weg nur sehr schwer auszumachen ist, zeigen die Wortmeldungen einige Minuten später. Aus dem Publikum kommen Beschwerden: Man hätte doch bitteschön auch alternative Stromerzeugung, Kriege und AIDS ansprechen sollen. Und nicht nur Hunger, Konzernpolitik und Subventionen. Außerdem solle man über konkreten Widerstand nachdenken: Ein EU-weiter Generalstreik wird angeregt, eine Zusammenarbeit mit dem venezolanischen Präsidenten Chavez, genauso wie die Unterstützung der geplanten Straßenblockaden im benachbarten Bad Doberan.
Wolang jetzt? Jean Ziegler antwortet mit einem Zitat des US-Amerikanischen Dichters Walt Whitman: „Er erwachte in der Morgendämmerung und ging der Sonne entgegen ... hinkend.“ Er fügt hinzu: „Die Menschenrechte sind der Horizont.“