Die Berliner Musikerin und Labelmacherin Gudrun Gut hat Geschichte geschrieben. Alt ist sie trotzdem nicht. Arno Raffeiner hat sie besucht.
Im Grunde kann ein Leben für Musik immer und überall beginnen. Zum Beispiel irgendwann in den siebziger Jahren beim Schnüren von Päckchen in
Unterlüß
, einem Kaff mitten in der Lüneburger Heide. Dort begann die Karriere von Gudrun Gut, und seither wollte die Berliner Musikerin, Labelbetreiberin und DJane nie mehr etwas anderes machen als Musik. "In Unterlüß gab es einen Mailorder-Vertrieb. Dort konnte man frühe
Virgin
-Platten per Post bestellen. Solche schräge Musik gab es damals in Deutschland noch gar nicht, und praktisch alle, die sich für Underground interessiert haben, haben dort bestellt. Es war reiner Zufall, dass ich ausgerechnet dort nach der Schule Pakete schnürte. Aber von da an hat sich das bei mir durchgezogen."
Gudrun Gut sitzt in der Küche ihrer Wohnung in Berlin Schöneberg, die zugleich ihr Büro ist. Sie pflückt sich noch eine dicke Traube aus der Obstschale vor ihr, zündet noch eine Zigarette an. Diese Frau ist so etwas wie eine Legende. Sie war Gründungsmitglied der
Einstürzenden Neubauten
, gründete später gemeinsam mit Bettina Köster die Band
Malaria!
In ihrem Berliner Klamottenladen
Eisengrau
traf sich in den späten siebziger Jahren die Szene, die später zur fruchtbarsten musikalischen Keimzelle Deutschlands werden sollte – und weit über die Ländergrenzen hinaus bekannt wurde. Zwischen dem Duft des eigens aus Japan mitgebrachten grünen Tees und der Rosen auf dem Küchentisch sieht Gudrun Gut immer noch jung und überaus gegenwärtig aus. Keine Spur von Nostalgie. Doch ohne einen Blick zurück, ins Poesiealbum von Punk und Popmusik, kann man dieser Frau einfach nicht gerecht werden
Mitte der siebziger Jahre macht sie sich aus der Lüneburger Heide auf nach Berlin. Ihr Kunststudium schließt Gut dort gar nicht mehr ab: Die Musik wird schnell viel wichtiger. Mit ihrer Band
Malaria!
geht sie bereits nach der ersten Veröffentlichung auf Europa- und Amerikatour. Als reine Frauen-Band wirbelt Malaria! in den frühen Achtzigern in der Musikszene zwischen Punk und Avantgarde gehörig Staub auf. Zusammen mit anderen selbsternannten „Genialen Dilletanten“ wie den
Einstürzenden Neubauten
oder der
Tödlichen Doris
wird sie weltbekannt.
Zwanzig Jahre später ist
Malaria!
– im Gegensatz zu den männlichen Kollegen – jedoch schon wieder so gut wie vergessen. Gudrun Gut selbst muss die Erinnerungsmaschine wieder in Gang bringen. Im Jahr 2000 fragt sie die Musikerinnen und Konzeptkünstlerinnen von
Chicks On Speed
, ob sie nicht den
Malaria!
-Klassiker
Kaltes klares Wasser
covern wollen. Die Coverversion rückt
Malaria!
nicht nur wieder ins Licht der Aufmerksamkeit, sondern landet auch in den internationalen Charts.
Aber klappen wir das Album wieder zu. Rund um Gudrun Gut passiert auch im Hier und Jetzt genug. Da ist ihre Sendung
Ocean Club
auf
Radio Eins
in Berlin, in der sie gemeinsam mit
Thomas Fehlmann
Woche für Woche Musik präsentiert. Da ist vor allem auch ihr Label
Monika Enterprise
. Und in Kürze steht auch Guts erstes Soloalbum an. Sie selbst sieht es gelassen. "Schon seit Jahren will ich diese Platte machen, aber ich hab einfach nicht die Zeit gefunden, weil ich immer so irre viel am Start habe."
Gut spricht dieses "irre" mit mindesten vier R aus. Genau so wie sie bei "groß" das O in die Länge zieht, wenn sie von Musik erzählt, die sie begeistert. Das kommt mindestens ein Mal alle fünf Minuten vor. Diese langen Os sagen viel mehr aus, als Guts eigene, ungewohnt einsilbige Antwort auf die Frage nach ihrem Antrieb über all die Jahre hinweg: "Keine Ahnung, der Spaß an der Sache. Oder ist es die Liebe, weiß ich nicht."
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Daran, mit der Musik aufzuhören oder „irgendwie mal was Anderes zu probieren“, hat Gudrun Gut nie gedacht. Das bleibt auch so, selbst wenn die Zeiten für ein Indie-Label wie
Monika Enterprise
derzeit nicht rosig aussehen. Das vergangene Jahr ist noch mal besonders schlecht gelaufen – "echte Katastrophe, Horror, richtig schlimm". Bei Gut und
Monika
muss eben immer etwas passieren. "Ich bin ein Macher. Sonst hätte ich das Label wahrscheinlich auch nicht gegründet. Ich wollte einfach wissen: Warum funktioniert das nicht? Warum gibt es diese Ungerechtigkeit, dass einige einfach nicht bekannt werden, obwohl sie so gut sind – und andere bekannt werden, obwohl sie scheiße sind."
Die ersten Platten auf
Monika Enterprise
waren von den
Quarks
, einer Band, die zarte Wohnzimmerelektronik für Großstadtmelancholiker produziert. Das ist inzwischen schon zehn Jahre her, und Gut sammelt immer weiter: die Berliner Sängerin
Barbara Morgenstern
zum Beispiel, und die Band
Contriva
. Lassen sich ihre Künstler in eine einzige Schublade quetschen? "Bei mir steht jeder Künstler für sich, das finde ich extrem wichtig. Deswegen finde ich es okay, dass ich meine eigene Platte jetzt auch auf
Monika
veröffentliche. Erst habe ich damit gehadert, weil sie überhaupt nicht repräsentativ für mein Label ist. Aber genauso wenig ist eine der anderen Veröffentlichungen repräsentativ. Außerdem: Mein Album bei einem anderen Label zu veröffentlichen, hätte überhaupt nicht in mein Leben gepasst."
Seit über dreißig Jahren spielt sich dieses Leben vor allem in Berlin ab. Irgendwann kurz vor dem Fall der Mauer hatte Gut auch mal genug von der Stadt und schon konkrete Pläne für einen Umzug. Aber dann gab es plötzlich wieder so viel Neues zu entdecken, auch an Musik. Seit kurzem hat sie das Paradies quasi vor ihrer Haustür, das Berliner Umland, für sich entdeckt. "Ich möchte gerne aufs Land ziehen. Natur ist etwas ganz Neues für mich. Ich kann eigentlich den ganzen Tag vor dem Computer verbringen, Videos gucken, Musik hören, ich muss gar nicht rausgehen. Dieses Virtuelle kann schnell meine eigene Welt werden. Jetzt habe ich aber erfahren, wie schön Natur ist. Das ist das wirkliche Leben, so empfinde ich es. Ich habe dann plötzlich das Gefühl: Ich gehe hier auf dieser echten Erde, die Erde ist rund, und ich bin jetzt ein Teil davon. Das ist ganz groooß."
Gudrun Gut "I Put A Record On" erscheint bei Monika Enterprise /
Indigo