Zehn Jahre lang hat Phillip nicht getrunken. Heute ist er der letzte auf jeder Party. Wie kam das?
Ein Portrait von Julia Reinecke
"Prost." Die Bierflaschen treffen aufeinander. Phillip, Johann und Max schauen sich kurz in die Augen und stoßen an. Dann wendet sich jeder wieder seinem Gespräch zu. Der Berliner Rock-Club platzt aus allen Nähten, Leute eilen vorbei, grüßen, heben ihre Flasche, nicken Phillip zu und gehen weiter. Phillip hat viele Freunde hier.
"Anstoßen verbindet", hat er zwei Stunden zuvor erzählt, während er an einem Glas Almdudler nippte. "Hättest du jetzt Bier getrunken, hätte ich auch eins genommen, wir hätten angestoßen und alles wäre klar gewesen." Stattdessen waren wir wie Fremde, die Flasche Kräuterlimonade wie ein Abgrund zwischen uns. Nüchtern haben wir über die Zeit gesprochen, als er mit niemandem anstoßen wollte. Vor vier Jahren war das noch so.
Als Teenager hat Phillip an der Bar in einem Jugendzentrum gearbeitet. Alle kamen Bier trinken, er schenkte es aus und blieb trocken. Obwohl sein einziger Lohn Freibier war, trank er lieber Spezi. Verstanden hat das keiner. "Die Anderen haben Witze gemacht: Wie kann man nur an einer Bar arbeiten und nichts trinken!" Er hörte nicht zu und blieb dabei.
Phillip kommt aus dem gleichen Dorf wie Henrico F., erzählt er. "Der aus den Medien, der sich die Haare schneiden sollte". Phillip streicht seine eigenen kinnlangen Haare aus dem Gesicht und fährt fort: "Bei uns im Dorf gab es viele Negativbeispiele. Leute die rumhingen, nichts zu tun hatten. Deren Versagen ging immer mit Alkoholismus einher." Er selbst wollte nicht so werden. Mit dem Thema Alkohol schloss er deshalb nach einer kurzen, experimentellen Phase ab.
Damals war er Skater, liebte Musik. "Keine Chartmusik, eher alte amerikanische Sachen: College Radio-Bands, HipHop oder Rock". Doch wenn er sich an die Zeit erinnert, in der er sich mit seinen Freunden am Alkohol ausprobierte, klingt das nicht nach Lieblingslied. Eher nach Übelkeit. Phillip lehnt sich langsam vor und trinkt einen Schluck Kräuterlimo. Whiskey vertrage er heute noch nicht, weil er mit 15 zu oft an der Tankstelle war, deren Besitzer das Alter seiner Stammkunden egal war. Die Jungs kauften, was ihr Taschengeld hergab und tranken bis ihr Körper resignierte. "Irgendwann lagen wir kotzend in der Ecke. Danach hatte man zwei Tage lang diesen Whiskeygeschmack im Mund".
Phillips Eltern tranken nur Wein. Anfangs war es ihr Verbot, das ihn dazu motivierte, erst recht das harte Zeug zu trinken. Wenig später war es ihr Verhalten, das ihn vom Alkohol wegbrachte. "Meine Eltern waren keine Alkoholiker, doch ich habe bemerkt, wie sie sich veränderten, wenn sie getrunken hatten. Dann gab es immer Streit, meine Mutter wurde melancholisch und mein Vater aggressiv. Sie waren nicht wiederzuerkennen." Dabei tranken sie abends nur ein paar Gläser. Aber das reichte – die Trinkprobezeit war für Phillip schnell vorbei. Alkohol war ihm unheimlich.
Acht Jahre ging das so. Seine Freunde tranken sich eine Party nach der anderen schön und fragten die Frauen reihenweise direkt ins Gesicht, ob sie vielleicht küssen wollten. Er beobachtete das alles mit klarem Kopf und lachte über ihr Benehmen. "Einmal waren wir in einem Club und ich sah, wie mein Kumpel mit verträumtem Blick vor dem DJ-Pult stand. Als er zurückkam, erzählte er vom Klo – dunkel wäre es da gewesen." Phillip findet die Geschichte heute noch lustig. Sein Freund hatte, ohne es zu bemerken, an die Turntables gepinkelt.
So etwas konnte ihm nicht passieren. Seine Aufgabe bestand darin, die Schnapsleichen später einzusammeln und heil nach Hause zu fahren. "Dafür waren sie alle dankbar." Auf einmal fragte ihn keiner mehr, warum er nur Spezi trank. Die Witze und dummen Sprüche verstummten mit dem Führerschein. Seine Abstinenz war in der Clique plötzlich akzeptiert – weil sie nützlich war. Den Geschmack von Alkohol erfuhr er in dieser Zeit nur, wenn er mit einem betrunkenen Mädchen knutschte. "Da ist mir aufgefallen, wie stark jemand nach Alkohol schmecken kann."
Mit 24 zog er nach Berlin. Eine neue Stadt, neue Freunde, ein neues Leben. Und eine neue Frau. "Die konnte richtig viel Alkohol vertragen. Ich wollte nicht nur daneben sitzen, also trank ich mit." Erst nur ein bisschen, dann immer mehr. Schleichend. Weil das in Berlin so ist. Inzwischen ist Phillip Kampftrinker. Er zieht um acht Uhr abends los und kommt zwölf Stunden später wieder heim. Er ist der letzte auf jeder Party und kennt alle 24 Stunden-Läden der Stadt. Einmal wachte er Mittags auf und hatte sich in der Nacht verletzt. Irgendwo, vielleicht ein Nagel, er konnte sich nicht erinnern.
Wer ist Schuld? Berlin? Die neue Freundin? Die U-Bahn, weil ihn niemand mehr als Fahrer braucht? Warum sich sein Trinkverhalten mit dem neuen Umfeld verändert hat, weiß Phillip nicht. Besoffen sein ist in Berlin selbstverständlich, erzählt er. "Auch wer überdurchschnittlich viel trinkt, ist hier nicht vom sozialen Abstieg bedroht." Sondern nimmt am sozialen Leben teil. Freundschaften werden bei einem Bier besiegelt, ebenso wie berufliche Kontakte. Phillip arbeitet im Musikgeschäft, da sind die Getränke oft auch noch kostenlos.
"Alkohol ist für mich ein kommunikatives Ding" sagt er, jetzt 28 und noch immer mit der Berliner Freundin zusammen. Wenn er anfängt zu trinken, gerät er in Fahrt und kann schwer aufhören. Wie damals mit 15 trinkt er um besoffen zu sein. Wahrnehmungsverschiebung, kein Gleichgewichtssinn, Kontrollverlust, Filmriss. Für Phillip kein Problem. "Ist doch toll, wenn der Körper etwas total verrücktes macht und der Geist ist nicht dabei." Übel habe ihm das bisher noch niemand genommen. "Wenn ich mich nicht an Leute erinnere, oder ein Gespräch vergessen habe, dann sage ich, dass ich betrunken war und sie erzählen die Geschichte einfach noch mal."
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"Lass uns nackt tanzen gehen", hat Phillip gesagt, bevor wir in den Rock-Club losgezogen sind.