Buenos Aires
Beinahe vergessen
Villa 20 de Lugones ist ein Viertel von Buenos Aires, in das niemand allein geht. Martin Rios will, das sich das ändert: Er organisiert Führungen durch das Ghetto
Von Jasmin Klofta
Es hat etwas Rühriges, mit Martin Rios durch "Villa 20 de Lugones" zu gehen. "Es ist doch schön hier", ruft er immer wieder, während sich Katzen an den schmutzigen Hauswänden entlang schleichen und die Menschen vor ihren Türen ungläubig den Treck beobachten, den der 32-Jährige anführt. Die Strasse, auf der wir gehen, heißt "Florida". Sie trägt den selben Namen wie die berühmte Einkaufsstrasse im Herzen von Buenos Aires. Doch gibt es hier weder noble Parfümerien noch hektische Bankangestellte.
Der Armutsstadtteil im Süden von Buenos Aires gehört zu den vergessenen Vierteln der Hauptstadt. Viele sind nicht freiwillig hierher gezogen. Als die Militärmachthaber in den siebziger Jahren der Welt ein sauberes und modernes Buenos Aires präsentieren wollten, wurden die Obdachlosen zwangsumgesiedelt. Bis heute blickt die Stadt ungern auf ihren Schandfleck. Im Stadtplan sind die Strassen "Villas" nicht eingezeichnet.
Der 32-jährige Rios will das ändern. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, Touristen die Normalität des Viertels zu zeigen. "Diese Menschen sind ein Teil von Buenos Aires. Sie sind die ware argentinische Folklore", sagt er. Und so führen er und Silvana Dias, die vor 27 Jahren aus Bolivien in die Villa kam, kleine Reisegruppen für 60 Dollar durch die labyrinthartigen Straßen und nach Hause zu den Einwohnern. So auch uns.
Er muss lachen, wenn er vom Beginn des Projekts erzählt: "Nach dem Dreh eines Filmes in dieser Villa gab ich einer Zeitung ein Interview. Ich erwähnte nebenbei, dass ich gerne mal einem Touristen diesen Teil der Stadt zeigen würde. Schon hieß es: Es gibt Touren Durch die Villa!" Immer wieder wird ihm seitdem vorgeworfen, die Armut der Menschen auszunutzen. Rios wehrt solche Anschuldigungen ab. "Ich führe die Leute nicht durch einen Zoo." Außerdem flössen Erlöse der Tour zurück in die Villa, um hier Kunstprojekte ermöglichen.
Es geht jetzt durch schmale, verwinkelte Gassen, in denen Kinder spielen. Rios führt uns in das Haus von Eva Salas, die bereits 30 Jahre in der Villa lebt. Durch die Türen und die kleinen Fenster dringt etwas Licht in die einfach eingerichteten Zimmer. Kühlschrank, Fernseher, Aquarium. Eva lebt gerne hier, doch auch sie sieht die Probleme: Jeder von uns wäre längst überfallen worden, wären wir hier allein unterwegs, sagt sie. Auch die Drogenkriminalität macht ihr Sorgen. "Paco", ein Restprodukt, das bei der Herstellung von Kokain abfällt, ist weitverbreitet. Selbst wenn die Polizei hier präsent wäre, würde sich das Problem nur verlagern, meint Eva. "Wenn die Kinder es hier nicht bekommen, kaufen sie es eben ein paar Blöcke entfernt in der nächsten Villa."
Davon ist auch Silvana Dias überzeugt. Die selbstbewusste Frau in enger Jeans und modischer Sonnenbrille schätzt die Vorteile, die das Leben im Stadtteil mit sich bringt: Schließlich bezahle sie weder Miete noch Strom und Steuern. Doch sie würde auf diese Annehmlichkeiten gerne verzichten, wenn sich dadurch der Ruf der Villa verbessern würde. "Sobald man sagt, woher man kommt, gibt es keine Arbeit", erzählt Dias. Ihren Kindern möchte sie das ersparen. Daher hofft sie, bald woanders eine Wohnung zu finden: "Meine Kinder sollen ruhig aufwachsen, studieren und eine Chance für eine Zukunft haben." Eine Sichtweise, die Martin Rios ändern will. Einstweilen aber scheint er Dias verstehen zu können. Auch er selbst wohnt im anderen, im bürgerlichen Buenos Aires.
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